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Von Hermann Lueer

Soweit sich im Anschluss an die Schriften von Marx und Engels überhaupt mit den ökonomischen Grundlagen einer kommunistischen Gesellschaft befasst wurde, sind die Vorstellungen zur kommunistischen Gesellschaft gewöhnlich allein negative Bestimmungen: kein Geld, kein Wert, kein Markt, keine Lohnarbeit oder oberflächliche d.h. inhaltlich nicht weiter ausgeführte Phrasen wie: Vergesellschaftung der Produktionsmittel oder das bei den Anarchisten ebenso wie bei Lenin und selbst bei Stalin beliebte Motto: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.
Dementsprechend sehen die Vorstellungen zur Übergangsperiode aus. Da der entscheidende Aspekt der revolutionären Umwandlung – die ökonomischen Grundprinzipien eines kommunistischen Produktionsverhältnisses – weitgehend im Unklaren sind, erscheint die Herausforderung des Übergangs zur kommunistischen Gesellschaft im Wesentlichen in der politischen Organisationsform zu liegen. Die Stichwörter sind hier die führenden Rolle der Partei versus alle Macht den Räten.
Ohne Bewusstsein über die ökonomischen Grundlagen der revolutionären Umwandlung vom Kapitalismus zum Kommunismus werden die in den linksradikalen Strömungen verbreiteten Vorstellungen zur Übergangsperiode auf unterschiedliche Art und Weise zum Einfallstor für die Konterrevolution.
1. Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung
Die Übergangsperiode vom kapitalistischen zum kommunistischen Produktionsverhältnis ist die Revolution, die Umwälzung der Produktionsverhältnisse, der als politische Übergangsperiode die revolutionäre Diktatur des Proletariats entspricht.
Das Ziel der proletarischen Revolution kann nur darin bestehen, ein neues Verhältnis zwischen dem Produzenten und dem gesellschaftlichen Produkt herzustellen. Um die herrschenden Lohnarbeitsverhältnisse zu überwinden, muss die Trennung von Arbeit und Arbeitsprodukt aufgehoben werden, so dass das Verfügungsrecht über das Arbeitsprodukt und daher auch über die Produktionsmittel wieder den Arbeitern zukommt. Das ist das Wesentliche der kommunistischen Produktion.
Oder mit anderen Worten:
„Für den Proletarier kann das Ziel der sozialen Revolution kein anderes sein, als durch seine Arbeit zugleich sein Verhältnis zum gesellschaftlichen Produkt zu bestimmen. Das bedeutet:
Abschaffung der Lohnarbeit!
Die Arbeit ist das Maß des Konsums!
Es ist die einzige Voraussetzung dafür, dass Leitung und Verwaltung der gesellschaftlichen Produktion in die Hände der Arbeiter selbst gelegt werden.“[1]
Mit der Durchsetzung der individuellen Arbeitszeit als Maßstab für den Anteil am Produkt der gesellschaftlichen Arbeit wird die Umwandlung vom kapitalistischen zum kommunistischen Produktionsverhältnis vollzogen. Die Durchsetzung der individuellen Arbeitszeit als Maßstab für den Anteil am Produkt der gesellschaftlichen Arbeit bedeutet durch die Verhinderung der Aneignung fremder Arbeit zugleich die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Mit dem Privateigentum an Produktionsmitteln verschwindet der auf dem Privateigentum beruhende Warentausch und damit der Tauschwert und seine allgemeine materielle Form des Geldes. Die Menschen machen alles sehr einfach ab, ohne Dazwischenkunft des vielberühmten „Werts“. An die Stelle der Bewertung der individuellen Arbeit hinter dem Rücken der Menschen über die Konkurrenz auf den Märkten oder über die bewusst regelnde staatliche Gewalt in Form von Preisvorschriften für Güter und Arbeit setzen die Menschen als Maß ihrer Arbeit die Arbeitszeit. Die gemeinschaftlich ausgeübte planmäßige Verfügung über die Produktion durch die freien Produzenten auf der Grundlage der Arbeitszeitrechnung begründet die kommunistische Gesellschaft.
Auf dieser Grundlage, auf der das Verhältnis von Arbeitsaufwand zu Ertrag für alle Gesellschaftsmitglieder offenliegt, ist eine Produktionsplanung möglich, bei der die Menschen selbst entscheiden, was sie gemäß ihrer individuellen Abwägung von Aufwand und Ertrag haben möchten. Das heißt, es kann jeder selbst über seine Arbeitszeit und seinen Konsum bestimmen. Die individuellen Bedürfnisse werden gegenüber ihrem gesellschaftlichen Aufwand abgewogen und entsprechend über den Konsumwunsch und die Arbeitsbereitschaft in den gesellschaftlichen Planungsprozess eingebracht. Die Arbeitszertifikate sind inhaltlich nichts anderes, als der Abgleich der in der gemeinsamen Planung vorgenommenen Arbeitseinteilung. Über die Arbeitszeitrechnung löst sich die Verteilungsfrage somit in Produktionsplanung auf. Planung des gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhanges bedeutet schließlich nichts anderes, als die zur Bedürfnisbefriedigung erforderliche gesellschaftliche Arbeitszeit mit der Summe der zur Verfügung stehenden individuellen Arbeit zu verbinden. Auf dieser Grundlage sind die einzelnen genossenschaftlichen Arbeitsorganisationen bezogen auf die Bedürfnisse der Gesellschaftsmitglieder in der Lage, sich im Rahmen ihrer Zulieferbeziehungen horizontal und vertikal zu einem planmäßigen Ganzen zu vernetzen und den Produktions- und Reproduktionsprozess rationell zu gestalten.
Mit der Durchsetzung der individuellen Arbeitszeit als Maßstab für den Anteil am gesellschaftlichen Produkt steht und fällt Revolution. Der revolutionären Transformation des kapitalistischen Produktionsverhältnisses zu den ökonomischen Grundprinzipien der kommunistischen Gesellschaft entspricht die politische Form der Übergangsperiode – nicht umgekehrt! Dem Ausmaß der Durchsetzung der ökonomischen Prinzipien d.h. der Fähigkeit zur Durchführung der Arbeitsstunde als Maßstab im gesamten Wirtschaftsleben entspricht daher die Veränderung der politischen Form: das Absterben der Diktatur des Proletariats.
Alles Eigentum leitet sich aus Okkupation und Gewalt her und wird mit ihrer Durchsetzung zum Recht. Der wesentliche Unterschied zwischen dem privatisiertem und dem vergesellschaftetem Eigentum an Produktionsmitteln besteht darin, dass die Privatisierung im Unterschied zur Vergesellschaftung auf der Gewalt weniger gegenüber der Mehrheit beruht. Mit der Durchsetzung der individuellen Arbeitszeit als Maßstab für den Anteil am Produkt der gesellschaftlichen Arbeit erkennt die kommunistische Gesellschaft das Recht der Ausbeutung nicht an und unterwirft zugleich das gesamte Wirtschaftsleben den kommunistischen Produktionsregeln. Ihre gesellschaftliche „Diktatur“ besteht im Wesentlichen darin, die öffentliche Buchführung der Arbeitszeitrechnung als allgemeine Grundlage für Produktion und Verteilung durchzuführen. Die Betriebsorganisationen führen öffentlich Buch über das ihnen im Rahmen der Lieferbeziehungen von der Gesellschaft anvertraute Inventar an Rohstoffen, Halbfabrikaten und Produktionsmitteln und die hierin enthaltene gesellschaftliche Arbeitszeit. Die gesellschaftlich durchschnittliche Produktionszeit (als Einheit der Produktivität) erweist sich als Kontrolleur in der Produktionsgenossenschaft. Als Kontrolleur nicht nur bezogen auf die einzelnen Lieferbeziehungen, sondern bezogen auf den gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozess, der in der gesellschaftlich durchschnittlichen Produktionszeit pro Einheit für alle offen liegt. Aber dieser »Kontrolleur« ist weder ein ihnen übergeordnetes Subjekt, noch ein Sachzwang einer hinter ihrem Rücken wirkenden ökonomischen Gesetzmäßigkeit, sondern ihr eigener kooperativer Zusammenhang, den sie im Konsens miteinander zu ihrem gemeinsamen Nutzen steuern können. Indem sie die Produktion und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen unter Ausschaltung der Konkurrenz auf der Grundlage der Arbeitszeitrechnung durchführen, treten an die Stelle der Regierung über Personen die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Die staatlichen Funktionen, die sich aus den Gegensätzen der Einkommensordnung entwickeln, werden nicht abgeschafft, sie sterben ab. Die Aufhebung des kapitalistischen Produktionsverhältnisses über die Durchsetzung der Arbeitszeitrechnung und das Absterben der staatlichen Funktionen sind nur zwei Seiten einer und derselben Handlung.
Mit anderen Worten:
„Aus dem unhaltbaren Zustand für die Arbeitermassen, die als Lohnarbeiter der absoluten Verelendung preisgegeben sind, gibt es nur diese eine Rettung, dass die Lohnarbeiter selbst die Produktionsmittel in Besitz nehmen. Aber sie können das nur, wenn sie vereinigt in den Räten zur gesellschaftlichen Macht werden und zugleich gemeinsam, d.h. auf kommunistischer Grundlage, die Produktionsmittel für den gesellschaftlichen Bedarf anwenden. (28)
Die ökonomische Förderung der Arbeitszeitrechnung drückt sich politisch aus in dem Beherrschen der Gesellschaft durch die Arbeiter. Das eine ist nicht ohne das andere. Ist die Arbeiterklasse nicht imstande, die Arbeitszeitrechnung durchzuführen, dann heißt das nichts anderes, als dass sie nicht imstande ist, die Lohnarbeit aufzuheben; nicht imstande ist, die Leitung und Verwaltung des gesellschaftlichen Lebens an sich zu reißen. Wird die Arbeitszeit nicht das Maß des individuellen Konsums, dann ist Lohnarbeit die einzige Lösung. (30)
Darum erheben wir als direkte Losung der Arbeitermacht: Die Arbeiter bringen alle gesellschaftlichen Funktionen unter ihre direkte Verwaltung. Sie ernennen alle Funktionäre und setzen sie ab. Die Arbeiter nehmen die gesellschaftliche Produktion in eigene Bewirtschaftung durch Zusammenschließung in Betriebsorganisationen und Arbeiterräten. Sie selbst schalten ihren Betrieb bei der kommunistischen Wirtschaft ein, indem sie ihre Produktion nach der gesellschaftlich-durchschnittlichen Arbeitszeit berechnen. Damit geht die ganze Gesellschaft zur kommunistischen Produktion über.
Das ist das politische und zugleich wirtschaftliche Programm der Lohnarbeiter; in diesem Sinne werden ihre Räte die Wirtschaft umgestalten. Es sind die höchsten Forderungen, die wir in diesen Fragen stellen können, aber es sind zugleich auch die niedrigsten, weil es sich handelt um das Sein oder Nicht-Sein der proletarischen Revolution.“ (31)[2]
Dem ist im Hinblick auf die Übergangsperiode von der kapitalistischen zur kommunistischen Gesellschaft nichts hinzuzufügen, denn die umfangreiche Umgestaltung von dem, was der Kapitalismus über Jahrhunderte angerichtet hat, zu dem, was die Menschen auf der Grundlage des kommunistischen Produktionsverhältnisses wollen, ist eine Sache, die nur sie selbst entscheiden können.
Natürlich ordnet sich nun die kommunistische Gesellschaft über einen langen Zeitraum nach ihren eigenen Kriterien neu – sei es im Verhältnis zur Umwelt, in Hinblick auf den Automatisierungsgrad der Arbeit, im Verhältnis von Stadt und Land, von Kopf zu Handarbeit oder in Hinblick auf ihr Bildungswesen, die Familie, usw. usw.. Aber dieser Umbau geschieht als kommunistische, von Lohnarbeit befreiter Gesellschaft, in der das Verfügungsrecht über das Arbeitsprodukt und daher auch über die Produktionsmittel wieder den Arbeitern zukommt. Die Grundlage für diese umfangreiche Umgestaltung ist das kommunistische Produktionsverhältnis selbst.
2. Die höhere Phase des Kommunismus als Einfallstor der Konterrevolution
Marx erwähnt in der Tat eine Übergangsperiode: die Revolution. Das war es dann aber auch schon. Darüber hinaus gibt es keine Übergangsperiode zur kommunistischen Gesellschaft.
Die Idee einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft im Sinne des Mottos „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“, die gerne als die entwickelte Form des Kommunismus missverstanden wird, ist das Einfallstor der Konterrevolution.
Die Marxisten-Leninisten setzen auf die Diktatur über das Proletariat, an deren fernem Horizont die höhere Phase der kommunistischen Gesellschaft aufscheint, nachdem unter der Führung der Partei über den langwierigen und komplizierten Weg der Entwicklung der Produktivkräfte das Reich der Notwendigkeit überwunden ist. Die »libertären Kommunisten« setzen auf die über der Ökonomie frei schwebende sozialistische Moral, um ohne das laut Marx unvermeidbare Maß der Arbeitszeitrechnung bereits im Reich der Notwendigkeit das Reich der Freiheit zu errichten.
a. Marxismus-Leninismus
Mit der Verstaatlichung der Produktionsmittel im Namen der Bevölkerung ist die Lohnarbeit nicht abgeschafft. Eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die nicht zugleich die Trennung zwischen dem Arbeiter und dem Arbeitsprodukt aufhebt, verfehlt das Ziel, da sie das mit der Lohnarbeit verbundene Ausbeutungsverhältnis aufrechterhält. Es fehlt die ökonomische Grundlage der kommunistischen Gesellschaft, die es den Gesellschaftsmitgliedern ermöglicht, selbst über ihre Arbeitszeit und ihren Konsum zu bestimmen – d.h. darüber, was sie haben wollen und wie sie arbeiten wollen entsprechend ihrer individuellen Abwägung von Aufwand und Ertrag.
Die Aufhebung der Lohnarbeit kann nur geschehen, wenn die Trennung zwischen dem Arbeiter und dem Arbeitsprodukt aufgehoben wird, wenn infolge der Durchsetzung der Arbeitsstunde als Maßstab im gesamten Wirtschaftsleben das Verfügungsrecht über das Arbeitsprodukt und damit über die Produktionsmittel wieder den Arbeitern zukommt. Hierfür bedarf es, anders als die meisten der sich auf Marx berufenden Marxisten meinen, keines langwierigen komplizierten Übergangs unter der Führung der Partei.
Für die um die Führungsmacht streitenden marxistisch-leninistischen Parteien ist demgegenüber der Gedanke völlig selbstverständlich, dass die Arbeiter in den Betrieben die Macht übernehmen, um sie der intellektuellen Vorhut zu übergeben, damit diese dann im „Namen und zum Wohle der Arbeiterklasse“ die neue Gesellschaft organisieren kann.
„Nicht eine mystische „rationelle Organisation“ der Produktivkräfte, sondern das ununterbrochene Wachstum der gesamten gesellschaftlichen Produktion bei vorwiegender Steigerung der Produktion von Produktionsmitteln“[3] sei für den berühmten Übergang zum Kommunismus notwendig. Ein, wie auch Lenin schon lehrte, „langwieriger und komplizierter Übergang von der kapitalistischen Gesellschaft …, um auch nur zu einer der Vorstufen der kommunistischen Gesellschaft zu gelangen.“[4] Denn, so Trotzki in seinem Rückblick auf die angeblich verratene Revolution: „Die materielle Voraussetzung des Kommunismus ist eine so hohe Entwicklung der wirtschaftlichen Potenz des Menschen, dass die produktive Arbeit aufhört, eine Last und Mühsal zu bedeuten, und der Antreiberei nicht mehr bedarf; die Verteilung der ständig im Überfluss vorhandenen Konsumgüter bedarf dann (…) keiner anderen Kontrolle mehr als der durch die Erziehung, die Gewohnheit und die öffentliche Meinung.“[5]
Gemäß der sich auf Lenin berufenden Marxisten wäre es daher naiv, die Abschaffung von Lohnarbeit und Staat im Anschluss an die soziale Revolution zu erwarten. Lohnarbeit und Staat sterben ab, aber erst am fernen Horizont der Menschheitsgeschichte.
Mit diesem „kommunistischen“ Programm geben sich die marxistisch-leninistischen Kritiker des Kapitalismus mit den Anhänger der kapitalistischen Wirtschaftsordnung die Hand. Auch in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung geht es schließlich laut ihrer Fürsprecher zu guter Letzt um den Wohlstand für alle. Nichts habe die Welt in den vergangenen zwei Jahrhunderten so verändert wie der Siegeszug des Kapitalismus. Elend sei zwar der Begleiter des Fortschritts und Ungleichheit gehöre zum Kapitalismus, aber auf lange Sicht bringe der Kapitalismus allen mehr Wohlstand.
Das ist der berühmte langwierige und komplizierte Übergang zum Land in dem Milch und Honig fließen, wenn die „Avantgarde der Arbeiterklasse“ im „Interesse der Arbeiterklasse“ über die Köpfe der Arbeiterklasse hinweg ihr „kommunistisches“ Programm umsetzt. Dieser höhere Wert, „Interessen der Arbeiterklasse“, enthält in seiner Abstraktion von den ihm untergeordneten Bedürfnissen der Individuen bereits das Potenzial für die Brutalität gegenüber den Menschen, von denen er in ihrem Namen absieht. Gesteigert wird diese fürchterliche Abstraktion noch in ihrer Rücksichtslosigkeit und Brutalität gegenüber den einzelnen Menschen, wenn die Durchsetzung der „Interessen der Arbeiterklasse“ zugleich zu einer historischen Mission erklärt wird, also zur Abstraktion von den konkreten Interessen der Individuen über Generationen. Dann lässt sich auch im Sozialismus ein „Reichtum“ produzieren, für den die Arbeitsbedingungen und der Lohn ein Kostenfaktor sind. Dann müssen auch in der sogenannten Übergangsphase zum Kommunismus unter dem Wertmaßstab des Geldes die Funktionalität und Qualität der Gebrauchsgegenstände sowie die Lebensbedingungen der Arbeiter vom Zweck zum Mittel degradiert werden. Dann lässt sich auch in der „ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft“ die Produktivität der Arbeit über die Verausgabung der Arbeiter im Interesse der Arbeiterklasse über Jahrzehnte auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung steigern. Dann lohnen sich beim Aufbau der „kommunistischen Gesellschaft“ – ähnlich wie bei den zynischen Befürwortern der kapitalistischen Verhältnisse – die Opfer von Generationen immer wieder für die kommenden Generationen.
Ökonomisch soll dieses marxistisch-leninistische Programm umgesetzt werden, indem der Anarchie der Märkte die bewusste und planmäßige Anwendung des Wertgesetzes entgegengesetzt wird. Anstelle der Bewertung der individuellen Arbeit hinter dem Rücken der Produzenten über die Konkurrenz auf den Märkten, soll über die regelnde Gewalt des Staates eine gerechte und zugleich die Produktivkraftentwicklung entfesselnde Bewertung der Arbeit vorgenommen werden.
Das Wertgesetz bewusst anwenden zu wollen unter Verhältnissen, in denen die kapitalistische Konkurrenz, über die sich das Wertgesetz durchsetzt, gar nicht mehr gegeben ist, bedeutet mit der Ermittlung des „objektive richtigen“ Preises eine nichtexistente Größe ermitteln zu wollen.
Indem die Realsozialisten das Eigentum an Produktionsmitteln, Lohnarbeit, Ware, und Geld nicht abschafften, sondern den Versuch unternahmen, sie in „bewusster Anwendung des Wertgesetzes“ für die Umsetzung der wirtschaftspolitischen Ziele des Realsozialismus planmäßig anzuwenden, ersetzten sie die in der marktwirtschaftlichen Konkurrenz aus ihnen entspringenden Interessengegensätze durch genauso viele vom Staat aufgeherrschte Interessenkollisionen. Die Folgen dieser widersprüchlichen wert- und ertragsorientierten Produktionsplanung sind bekannt: Auf der Grundlage der von den staatlichen Instanzen vorgegebenen Preise und dem Auftrag zur Gewinnerzielung wurde von den Betrieben des „Realen Sozialismus“ entsprechend kreativ gewirtschaftet. Die von ihnen geforderte Optimierung der Hauptkennziffern der Planung – Übererfüllung von Menge und Gewinn – wurde konsequenterweise im rücksichtslosen Umgang mit den Produktionsfaktoren Material und Arbeit umgesetzt. Wo bezogen auf die vorgegebenen Ein- und Verkaufspreise der Gewinn festgelegt war, waren Versuche, aus gegebenem Material mehr Produkt herauszuschlagen, an der Tagesordnung. Mangelhafte Produktqualität und daraus resultierende Versorgungsengpässe machten so vielfach die Bemühungen um eine geordnete Produktion zunichte. Autarkiebestrebungen der einzelnen Betriebe, das Horten von wichtigen Vorprodukten sowie Übergänge in die sogenannte Schattenwirtschaft waren die Folge. Da mit den staatlich festgesetzten Preisen der Verkauf gesichert war, konnte selbst die Produktion unnützer Güter ein Mittel der Planübererfüllung sein. Neben überflüssigen und mangelhaften Gebrauchsgegenständen gingen so Umweltzerstörung und schlechte Arbeitsbedingungen einher mit einer am Gewinn orientierten Übererfüllung der Plankennziffern. Die wesentliche Errungenschaft des Sozialismus – die „bewusste Anwendung von Wertkategorien“, d.h. der Einsatz von Preisen und Gewinnvorgaben zwecks Steuerung von Produktion und Verteilung – stellte sich im Ergebnis als praktisches Hindernis einer ausreichenden Versorgung mit Gebrauchsgegenständen dar.
Die Leistung Michail Gorbatschows war es schließlich, siebzig Jahre nach der Oktoberrevolution die Folgen der „bewussten Anwendung des Wertgesetzes“ und der „bewussten Ausnutzung der Ware-Geld-Beziehungen“ überwinden zu wollen und zwar gemäß der Parole „Mehr Markt im Sozialismus für ihn“. Und so endete die Übergangsperiode im Realsozialismus mit dem vorbehaltlosen Lob der wirtschaftlichen Freiheit – dem Grundprinzip des kapitalistischen Produktionsverhältnisses.
b. Libertäre Kapitalismuskritiker
Auch die „libertären Kapitalismuskritiker“ halten von der durch Marx und Engels aufgezeigten ökonomischen Grundlage des „Vereins freier und gleicher Menschen“ nichts. Sie wollen in einer kommunistischen Gesellschaft leben und zugleich frei von ihr sein. Über ihr die ökonomischen Voraussetzungen ignorierendes Ideal einer selbstbestimmten Gesellschaft nach dem Prinzip „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ träumen sie von einem unmittelbaren Übergang zur Gesellschaft freier und gleicher Menschen, für die ihnen jede verbindliche ökonomische Grundlage als Widerspruch erscheint.
Da sich die „libertären Kapitalismuskritiker“ für die ökonomische Grundprinzipien der kommunistischen Gesellschaft nicht interessieren, verstehen sie nicht, dass Verteilung ohne ökonomisches Maß nicht „Nehmen nach Bedarf“ bedeutet, sondern letztlich die kontrarevolutionäre Zuteilung durch eine höhere Instanz.
Eine in den linksradikalen Strömungen damals wie heute weit verbreitete Illusion besteht in diesem Zusammenhang in der Vorstellung, man könne die Geldrechnung in der kommunistischen Wirtschaft durch die Naturalwirtschaft ersetzen. Eine Vorstellung, die schon der bürgerliche Ökonom Ludwig von Mises 1922 in seiner Kritik der Gemeinwirtschaft ausführlich widerlegt hat und worauf auch die GIK in ihrer Kritik Bezug nimmt.
In ganz einfachen Verhältnissen lässt sich vielleicht der ganze Prozess vom Beginn der Produktion bis zu seiner Vollendung übersehen und dahingehend beurteilen, ob alternative Verfahren weniger Aufwand erfordern bzw. bei gegebenem Aufwand mehr Produkte liefern. Das ist bezogen auf komplexere arbeitsteilige Verfahren nicht mehr möglich. Will man z.B. bei der Energieerzeugung zwischen Solar- und Windenergie entscheiden, sind die einzelnen Produktionsverfahren und möglichen Substitute so vielfältig, dass vage Schätzungen nicht mehr ausreichen, sondern es genauerer Berechnungen bedarf, um sich über die Wirtschaftlichkeit des Vorhabens ein Urteil zu bilden.
Rechnen kann man aber nur mit Einheiten bezogen auf einen Maßstab. Eliminiert man die Wirtschaftsrechnung, dann hat man keine Möglichkeit, eine rationale Wahl zwischen den verschiedenen Alternativen im Hinblick auf das Verhältnis von Aufwand zu Ertrag zu treffen. Die Naturalwirtschaft ist daher die Aufhebung der Rationalität in der Wirtschaft. Naturalwirtschaftliche Überlegungen mögen zwar zeigen, wie in technischer Hinsicht bestimmte Ziele durch die Aufwendung verschiedener Mittel erreicht werden können. Sie geben aber keine Auskunft über das Verhältnis von Aufwand zu Ertrag. Die Projekte und Entwürfe von Ingenieuren blieben daher unvollständig, wenn Input und Output sich nicht auf einer gemeinsamen Basis vergleichen lassen.
Bezogen auf die Produktion leuchtet den meisten noch ein, dass die rationale Planung und Organisation von Produktionsprozessen eines abstrakten Maßstabes bedarf. Die Vorstellung, man könne diesbezüglich zwischen Produktion und Konsum trennen, ist aber falsch. Produktion und Konsumtion hängen zusammen. Es wird produziert, um zu konsumieren und um konsumieren zu können, bedarf es der entsprechenden Produktion. Wenn es für den Konsumwunsch unbedeutend wäre, wieviel Arbeit hierfür erforderlich ist, dann wäre es auch auf der Produktionsseite unbedeutend, ob das eine Produktionsverfahren aufwendiger ist als das andere.
Die Bedürfnisse sind nicht Maßstab ihrer selbst. Erst wenn für die Bedürfnisbefriedigung keine Arbeit mehr notwendig ist, wird das Bedürfnis Maß seiner selbst. Wie im berühmten Schlaraffenland. Solange Arbeit zur Bedürfnisbefriedigung notwendig ist, stehen die Bedürfnisse immer im Verhältnis zu der zu ihrer Befriedigung erforderlichen gesellschaftlichen Arbeit d.h. zur individuellen Bereitschaft, sich hierfür an der Produktion zu beteiligen. Im Sinne der Rationalität ihrer arbeitsteiligen Ökonomie müssen die Menschen daher abwägen können, ob ihnen ihr Bedürfnis der Aufwand wert ist. Ohne die Information über den mit den Objekten der Bedürfnisse verbundenen gesellschaftlichen Aufwand ist eine vernünftige Abwägung, ob der Aufwand überhaupt im Verhältnis zum Nutzen steht, unmöglich. Wenn die Gesellschaftsmitglieder über den mit den verschiedenen Produkten und Dienstleitungen verbundenen Aufwand nichts wissen, bliebe ihnen nur ihr subjektives Bedürfnis als Maß, ob sie etwas haben wollen oder nicht. Auch die Frage, wieviel sie arbeiten wollen, ließe sich ohne den ökonomischen Maßstab der Arbeitszeit nicht bezogen auf das Verhältnis von Arbeit zu Arbeitsertrag beantworten, sondern allein über das Bedürfnis arbeiten zu wollen. Die Menschen benötigen also auch bezogen auf ihren Konsumwunsch neben ihrem subjektiven Bedürfnis nach diesem oder jenem einen objektiven Maßstab, der das intuitive Bedürfnis mit der dafür erforderlichen Arbeit ins Verhältnis setzten kann.
Die Arbeitszeit als Maßstab für den individuell zu konsumierenden Teil des gesellschaftlichen Produkts ist daher kein Gegensatz zur Bedürfnisbefriedigung, sondern Mittel einer rationalen Abwägung. Nur mit Hilfe der Wirtschaftsrechnung lassen sich die Mittel in ökonomischer Weise in den Dienst der Zwecke stellen. Das gilt für die Organisation der Produktion, die auf die Ermittlung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit nicht verzichten kann, ebenso wie für die rationelle Abwägung des Umgangs mit den Resultaten der gemeinsamen Produktion. Selbst bei den für jeden notwendigen Infrastrukturleistungen, wie beispielsweise Wasser und Strom, wäre es unsinnig, ohne diese Informationen auskommen zu wollen.
Den Gegensatz zwischen Bedürfnis und notwendiger Arbeit erzeugen nicht die Arbeitszertifikate, sondern die Natur selbst. Das Reich der Freiheit beginnt erst da, wo die Notwendigkeit der Arbeit aufhört. Durch die systematische Offenlegung des Zusammenhanges zwischen Bedürfnis und notwendiger Arbeit erzeugt die Gesellschaft keinen Gegensatz. Im Gegenteil: Den Gesellschaftsmitgliedern den Zusammenhang von Aufwand zu Ertrag anhand der Arbeitszeitrechnung offenzulegen, ebenso wie ihren persönlichen Anteil an Arbeit und Konsum, darauf wird eine Gesellschaft nicht verzichten können, wenn ihre Gesellschaftsmitglieder selbst nach ihren Bedürfnissen über Arbeit und Konsum bestimmen wollen. Der „Verein freier Menschen“ würde seinem Namen nicht gerecht, würde er die materielle Grundlage ignorieren, die ihn in die Lage versetzt, Produktion und Distribution selbst leiten und verwalten zu können. Verteilung ohne ökonomisches Maß bedeutet nicht „Nehmen nach Bedarf“, sondern die konterrevolutionäre Zuteilung durch eine übergeordnete Instanz.
Es genügt daher nicht, die soziale Revolution nur zu propagieren, man muss auch untersuchen, wie sie ökonomisch durchgeführt werden muss.
[1] Gruppe Internationaler Kommunisten, Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung, Red & Black Books 2020, S. 52
[2] GIK, Arbeiterräte und kommunistische Wirtschaftsgestaltung, in: Gruppe Internationaler Kommunisten, Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen, Red & Black Books 2021
[3] J. Stalin, Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR, Werke Bd. 15, Über die Fehler des Genossen L.D. Jaroschenko
[4] W. I. Lenin, Die NÖP und die Aufgaben der Ausschüsse für pol.-kult. Aufklärung, in: Werle Bd. 33, S. 43. Die Hervorhebung wurde dem Zitat hinzugefügt.
[5] L. Trotzki, Verratene Revolution, Schriften 1.2, S. 735