Die Brandstiftungen, Plünderungen und andere „Ereignisse“ des Aufruhrs, anlässlich des G-20-Gipfels in Hamburg fanden statt unter dem Vorwand des „Antikapitalismus“.
Der am wenigsten intelligente Teil des „linken autonomen“ Milieus hat diese Ereignisse gefeiert als Sieg über die repressiven Kräfte der Bourgeoisie.
Daneben haben sich erste und schwache Fragen gezeigt, ob das Auftreten dieser Taten nicht ein berechneter Bestandteil der vom Staat geplanten Strategie war.
Irgendwelche signifikante Reaktionen aus dem internationalistischen Milieu fehlen bis jetzt, mit der lobenswerten Ausnahme der Gruppe Internationale SozialistInnen (G.I.S.) in Deutschland: Glasbruch und Protest: 8 Bemerkungen im Nachklapp auf G20 und den Perspektiven revolutionärer Politik. [English version: The G20 Summit: Beyond Broken Glass and Protest. ]. Der Herausgeber der Pressekorrespondenz Free Retriever’s Digest hatte ein kurzer, aber vielversprechender Austausch von Nachrichten mit der G.I.S., der wir hier publizieren.
Liebe Genossen und Genossinnen,
Mit großem Interesse lese ich Euren dokumentierten Artikel zu den Protesten und Krawallen anläßlich des G-20 Gipfels in Hamburg vom 7-8 Juli.
Sofern mir bekannt, ist es der erste Versuch von internationalistischer, und möglich überhaupt anti-kapitalistischer, Seite die Ereignisse in einen politischen Rahmen zu stellen mit Hinblick auf weitere Klärung ihrer Zusammenhänge und Bedeutung. Dieses ist sehr zu begrüßen. Ich werde den Artikel in der nächsten Ausgabe des ‘Digest’ anzeigen. Er sollte m.E. vorrangig ins Englische übersetzt werden für Diskussionen auch außerhalb des Deutschen Sprachraums.
Die konkreten Ereignisse vor Ort erläuternd finde ich im Artikel u.A. die Erklärung von Gewerbetreibenden aus dem Hamburger Schanzenviertel, und die Schilderung vom 7. Juli der brutalen polizeilichen Sprengung der “Welcome to Hell” Demo von Karl-Heinz Dellwo.
In mehr oder weniger einschlägigen Kreisen feiert man die Ereignisse zum G-20 Gipfel, vor Allem die Krawalle im Schanzenviertel, als tollen Erfolg, wie zu Beispiel bei der Black Rose Anarchist Federation.
Im Folgenden unternehme ich einen Versuch einige Eindrücke und Überlegungen aus der Ferne zusammenzufassen, mit Verweisen auf öffentlichen Quellen.
1.
Egal ob angekündigt als ”militante Aktion” (‘Schwarzer Block’ u.dgl.), “Blockierung des Gipfels” oder als “friedliche Groß-Demonstration” (am Samstag), es gab unter den Akteuren der Proteste und ‘Aktionen’ gegen den G-20 Gipfel keinen erkennbaren Ausdruck einer organisierten politischen Kraft die den Kapitalismus grundlegend in Frage stellt, bzw. nach dessen Überwindung strebt.
2.
Sterile Gewalt, wie der offensichtliche Vandalismus der von Teilen des internationalen ‘links-autonomen’ bzw. anarchistischen Spektrums mit-inszeniert und mit-getragen ist und wird, ist keinesfalls Ausdruck eines proletarischen Kampfwillens gegen die Bourgeoisie und ihrem Staat auf ihrem eigenen Klassenterrain, sondern paßt einfach in das Kalkül des bürgerlichen Staates, der diese Eskalation vorsätzlich herbeigeführt hat. (1)
3.
Letzteres geht schon aus dem Umfang der polizeilichen Vorbereitungen (wie in Sachen ‘Grenzschutz’, Inland- und Personenüberwachung), den repressiven Einsätzen gegen ungefährliche ‘Protestcamps’ vor Ort und der Sprengung der – gar offiziell genehmigten – ‘links-autonomen’ Demo “Welcome to hell” hervor. Ein vorsätzliches Verhalten seitens der Bourgeoisie wird durch die Tatsache bestätigt, daß unmittelbar auf den Ausschreitungen in Hamburg und das Chaos im Schanzenviertel eine großangelegte Distanzierungs- und Diffamierungskampagne gegen ‘Links’ vom Zaun gebrochen wurde.
4.
Offizielle “selbst-kritische” Erklärungen zu einem zeitweisen Kontrollverlust der polizeilichen ‘Ordnungskräfte’ während der Proteste und Randale, wie z.B. vom Hamburger Polizeipräsidenten Meyer in einem Spiegel-Interview am 15. Juli, sind darauf angelegt zu verschleiern, daß ein gewisses Chaos und bestimmte Ausschreitungen durch den Polizeieinsatz selbst vorsätzlich mit herbeigeführt worden sind, wie Auskünfte zu den Beratungen in den Sicherheitsausschüssen nahelegen. Etwa in: ‚Dienste warnten früh vor „Eskalation“ in Hamburg‘ in der SZ vom 12. Juli.
5.
Im Großen und Ganzen habe ich den Eindruck, daß die Verteidiger des bürgerlichen Staates einen präventiven Coup gelandet haben zur Diskreditierung und Kriminalisierung jeglichen effektiven Widerstands gegen die bürgerliche Staats- und Gesellschaftsordnung, der darauf abzielt die staatlichen Repression gegen sich politisierende, bzw. ‘radikalisierende’ proletarische Minderheiten auf einer höheren Stufe der Eskalation zu legitimieren.
- Stellvertretend für solche Minderheiten nimmt der Staat und seine politischen Parteien spezifisch das ‘links-autonome’ und anarchistische Spektrum ins Visier, bzw. die ‘Rote Flora’ in Hamburg und die ‘Rigaerstrasse’ in Berlin.
- Des Weiteren wird eine engere Zusammenarbeit der Polizei- und Nachrichtendienste in Europa über Vernetzung und Austausch von Informationen in einer sog. „Extremistendatei“ beabsichtigt… Man fragt sich ob es sich hierbei wirklich um etwas was Neues handelt und was der Gipfel in dieser Hinsicht eventuell erbracht hat. Vor Kurzem schien ein solcher Austausch in Fällen sogenannter “Gefährder“ unter Asylanten und Flüchtlingen, wie in Deutschland der Tunesier Amri, schon sehr kläglich zu versagen.
6.
Fragen die sich aus der Lage m.E. zur Diskussion ergeben, betreffen die genauen Ziele und Reichweite dieser staatlichen Offensive; die nach der politischen und physischen (Selbst-) Verteidigung des proletarischen politischen Milieus gegen die staatliche Repression, und der politischen Abgrenzung von Tendenzen zu ‚blinder‘, nihilistischer Gewalt.
7.
Hierbei sehe ich keinen Gegensatz, sich von vermeintlich “militanten” Aktionen, wie das willkürlich in Brand setzen von PKWs (Elbchausee, Schanzenviertel, ggf. unter dem Vorwand eines Kleinkrieges gegen ‘Gentrifizierung’) oder das Demolieren, Plündern und in Brand setzen von Ladengeschäften (Schanzenviertel) u. dgl. politisch zu distanzieren, und gleichzeitig die Verlogenheit der Herrschenden aufzudecken und anzuprangern, wie sie etwa der erste Bürgermeister Hamburgs in Absprache mit dem Bundeskanzleramt auf neuen Höhen zu führen gedenkt.
8.
Die Stille die sich bisher, anläßlich des G-20 Gipfels, den Krawallen und der staatlichen Repressionskampagne, spezifisch über das kleine linkskommunistische Milieu, im weiten Sinne, ausgebreitet hat, ist besorgniserregend. Nicht nur wegen der Notwendigkeit des Austausches und klärender Diskussionen im Allgemeinen, sondern auch im Hinblick auf ein gemeinsames Interesse sich gegen staatliche Repression zu wehren.
Mit internationalistischen Grüßen,
Henry Cinnamon
Note
(1) Ein Indiz : Ein bürgerlich-demokratische Protestforscher, wie der Soziologe Simon Teune von der TU Berlin am 9. Juli in der SZ, hebt hervor, daß die Eskalation zu Randalen in Hamburg vorhersehbar, wenn nicht gar angesagt, war und schließt daraus auf ein “kolossales Scheitern der Polizeistrategie” (die sog. “Hamburger Linie“). Was von einem bürgerlich-demokratischen Standpunkt aus, der die Aufgabe der staatlichen Ordnungshüter im Rahmen der sogenannten FDGO beim Wort nimmt, zwar zutreffend sein mag, jedoch der Idee nicht zugänglich ist, daß ebendiese bürgerlich-demokratische, rechtsstaatliche Verfassung den Herrschenden ein feuchter Kehricht ist wo sie der Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen und Machtinteressen abträglich ist, oder gar im Wege steht.
Wir erhielten eine brüderliche Antwort der G.I.S.:
„Langfristig steht eine gründliche Auseindersetzung mit den Konzeptionen der ‚insurrektionalistischen‘ Szene noch aus. In erster Linie sehen wir hier einen rasanten Zerfallsprozess der sog. ‚Linken‘, worauf noch einzugehen sein wird“ (16. August 2017,)
Wir freuen uns darauf, diese Korrespondenz zu verfolgen und würden uns freuen wenn Andere sich zu den gestellten Fragen äußerten.
Quelle
Entnommen der Vierten Probe-Ausgabe von A Free Retriever’s Digest, mit einer Auswahl von Artikeln, News-Feeds und mehr, gesammelt aus überwiegend internationalistischen Quellen. Diese Digest-Newsletter zielt darauf ab, Publikationen zu präsentieren und Publikationen vorzustellen, die für aussagekräftige Diskussionen innerhalb des internationalistischen Milieus im Allgemeinen und unter den Gruppen und Kreisen relevant sind, die die Einhaltung der internationalen kommunistischen Linken insbesondere beanspruchen. Es beabsichtigt, Kommentare zu geben und bietet auch Raum für Diskussionen. E-Mail-Adresse des Herausgebers: afreeretriever@gmail.com.