H. Roland Holst: Die Kampfmittel der sozialen Revolution (1918)

Deutsche Erstübersetzung

  • Herausgeber ‏ : ‎ Red & Black Books (11. September 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 165 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3982582504
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3982582504

„Mit Recht sagt Dietzgen, der Philosoph des Proletariats, dass es als kämpfende Klasse das Evangelium nicht praktizieren kann und darf. Wir werden unseren Feinden erst dann Gutes tun, wenn wir sie wehrlos gemacht haben, denn nur dann können wir ihnen und allen Menschen Gutes tun. Aber die Art und Weise, wie wir sie wehrlos machen und die Macht an uns reißen, ist ein Faktor von ungeheurem Gewicht unter den vielen Faktoren, von denen der Zeitpunkt unserer dauernden Machtergreifung abhängt. Die proletarische Diktatur wird nur dann ein Übergang zu sozialistischen Lebensformen und nicht ein neues reaktionäres Zwischenspiel sein, wenn sie sich von allen bisherigen dadurch unterscheidet, dass sie sich in erster Linie auf moralische Gewalt stützt und sich vor allem durch die Überlegenheit ihrer organisatorischen Maßnahmen durchsetzt.“

Henriette Roland Holst

Vorwort zur deutschen Erstübersetzung

Henriette Roland Holsts Hauptwerk „Revolutionäre Massenaktion“ erschien nach jahrelanger Arbeit im Februar 1918 als gebundenes Buch von 430 Seiten in niederländischer Sprache. Für die meisten revolutionären Arbeiter war dieses Buch unerschwinglich. Im selben Jahr erschien jedoch eine preiswerte Broschüre mit dem Titel „Die Kampfmittel der sozialen Revolution“, die sich vor allem auf die Kapitel des oben genannten Buches über den Chartismus und die Revolutionen von 1905 und 1917 in Russland stützte.[1]

Mitten im Ersten Weltkrieg und im Hinblick auf den revolutionären Kampf gegen den Weltkrieg und für die Weltrevolution entwickelt Roland Holst in dieser Schrift ein leidenschaftliches Plädoyer für den Vorrang der geistigen vor der physischen Gewalt. Dieses Plädoyer beruht keineswegs auf dem Moralismus einer naiven Sozialpazifistin, sondern auf der Analyse einer realistischen Auflösung des Dilemmas der sozialen Revolu­tion in der Gewaltfrage. Dieses Dilemma besteht darin, dass einerseits der Kampf um eine neue Rechtsord­nung, um neue politische Formen, um neue Produktions- und Eigentumsverhältnisse immer zugleich als Machtkampf geführt wird. Niemals in der Geschichte, so zeigt Roland Holst, hat eine herrschende Klasse, die in einem zum Teil generationenlangen Prozess der Enteignung und Ausbeutung von Arbeitern und Bauern zu Eigentümern der Produktionsmittel geworden war, freiwillig auf ihre Macht verzichtet, immer hat sie sich mit Gewalt an sie geklammert. Die Gewalt als Mittel der sozialrevolutionären Umwälzung der Eigentumsverhältnisse, so notwendig sie daher letztlich ist, bedeutet andererseits zugleich, dass die soziale Revolution sich im Kampf um die Befreiung von Unterdrückung und Lohnarbeit in der Konkurrenz um die überlegene Gewalt derselben Gewaltlogik unterwerfen muss, die sie bekämpft. Mit der Kriegsvorbereitung, schreibt Roland Holst, verhält es sich nicht anders als mit dem Krieg selbst. Weder die Art der Kriegsführung noch die Ausdehnung des Kriegsgebietes kann sie bestimmen, beides wird ihr durch die militärische Notwendigkeit aufgezwungen.

In Kapitel 5 „Der Kult der imperialistischen Gewalt“ und Kapitel 6 „Proletarische Revolution und Gewalt“ argumentiert Roland Holst detailliert, warum Gewalt kein vorrangiges Mittel der sozialen Revolution sein kann. Die Auflösung des Gegensatzes in der Gewaltfrage sieht Roland Holst in der geistigen Gewalt, die in der Massenbewegung von der Massendemonstration zum Massenstreik als vorrangiges Mittel der sozi­alen Revolution entwickelt werden muss. Die Räteorganisa­tion als die entscheidende Organisationsform der selbständigen Klassenbewegung erwähnt sie nur am Rande. In ihrer Analyse gipfelt die notwendige Entwicklung der geistigen Gewalt im Massenstreik. Dieser Mangel ihrer Analyse wurde in späteren Schriften von Anton Pannekoek und der Gruppe Internationaler Kommunisten überwunden, die zeigten, dass erst die Entwicklung der Massenbewegung zur Rätebewegung dem Proletariat den bewussten Einsatz seiner Klassenkräfte ermöglicht.[2] Dies schmälert jedoch nicht den aufklärerischen Wert ihrer dialektischen Auflösung des Widerspruchs in der Gewaltfrage. Dass der Massenkampf nicht im Gegensatz zum bewaffneten Aufstand steht, sondern in einem von Arbeiter- und Soldatenräten organisierten Aufstand gipfelt, hatte ein halbes Jahr zuvor die proletarische Oktoberrevolution in Russland in ihrem Sinne bestätigt.

Im Juli 1918, zur Zeit der Abfassung ihrer Broschüre, war Roland Holst, wie die meisten Marxisten in Europa, ein glühender Anhänger der bolschewistischen Revolution. Dass sich das Wirtschaftsprogramm der bolschewistischen Partei unter der Führung von Lenin mehr an Rudolf Hilferding als an Marx und Engels orientierte, war Roland Holst sicher nicht bewusst. Für sie wie für die meisten ihrer marxistischen Genossen war es die selbstverständliche Aufgabe des Staates, die Wirt­schaft zu organisieren, eine Vorstellung, die Pannekoek schon 1911 ablehnte, als er schrieb: „Mit dem Umschlag des Charakters der Arbeit schlägt auch die Organisation der Verwaltung um. An die Stelle der Zentralisation tritt Dezentralisation, an die Stelle des Fabrikdespotismus tritt die Selbstverwaltung.[3] Demgegenüber waren für Roland Holst noch 1918 die „revolutionäre Entschlossenheit der Vorhut und die Disziplin des gesamten Proletariats“ im Sinne der führenden Rolle der Partei vorbehaltlos Garanten der sozialen Revolution. Der Einwand, den Rosa Luxemburg im selben Jahr in ihren Gefängnisaufzeichnungen festhielt, dass mit dem Erdrücken des politischen Lebens im ganzen Lande auch das Leben in den Sowjets immer mehr erlahmen muss,[4] war für Roland Host nicht präsent. Allein im Kult der Gewalt sah sie bereits die Gefahr der Entartung der russischen Revolution. 1927 verließ sie die Kommunistische Partei.

Während Pannekoek, dem Roland Holst ihre Broschüre gewidmet hatte, zur gleichen Zeit zusammen mit der Gruppe Internationaler Kommunisten die Kritik der politischen Ökonomie des Bolschewismus und die damit verbundene Kritik der führenden Rolle der Partei entwickelte, fiel Roland Holst aus Enttäuschung über die Gewalt unter dem Bolschewismus hinter ihre dialektische Analyse der Gewaltfrage zurück auf die moralisch religiöse Verurteilung der Gewalt. 1930 hatte sie darüber nicht nur dem Bolschewismus, sondern auch dem Marxismus den Rücken gekehrt.[5]


[1] Für die folgende deutsche Erstübersetzung wurde die Sprache in modernes Niederländisch umgewandelt. Dabei wurde das poetische, religiöse, moralische Vokabular und der wortgewaltige Stil der Autorin beibehalten. Zusätzlich zu den Fußnoten der Autorin wurden einige Anmerkungen und Erklärungen in eckigen Klammern hinzugefügt.

[2] Vgl. hierzu: Rätekommunismus. Marxistische Zeitschrift für selbstständige Klassenbewegung, Red & Black  Books 2022 sowie Cajo Brendel, 17. Juni 1953, Red & Black Books 2023

[3] A. Pannekoek, Die Abschaffung des Eigentums, des Staates und der Religion, Vorträge gehalten im Oktober 1911 in Stuttgart, https://www.marxists.org/deutsch/archiv/pannekoek/1911/10/abschaffung.htm

[4] Rosa Luxemburg, Zur russischen Revolution, Gesammelte Werke Bd. 4, S. 362

[5] Siehe hierzu ihren im Februar 1930 gehaltenen Vortrag: Is het geweld verwerpelijk in de strijd voor een socialistische samenleving?

H. Roland Holst: Die Kampfmittel der sozialen Revolution (1918)

3 Gedanken zu “H. Roland Holst: Die Kampfmittel der sozialen Revolution (1918)

  1. […] [6] Henriette Roland Holst – Van der Schalk soulignait déjà en 1916 la division de la classe ouvrière par la violence dans la lutte des classes, et en particulier la violence impérialiste à la fois dans la guerre inter-impérialiste et dans les guerres de libération nationale (qu’elle soutenait). Voir Henriette Roland Holst, Les luttes de la révolution sociale. En livre néerlandais: https://arbeidersstemmen.wordpress.com/2023/09/03/twee-boeken-rond-de-revolutie-in-rusland/. En PDF néerlandais gratuit : http://left-dis.nl/nl/RolandHolst_StrijdmiddelenDerSocialeRevolutie.pdf. Comme livre en Allemand: Die Kampfmittel der sozialen Revolution (1918): https://arbeiterstimmen.wordpress.com/2023/09/14/h-roland-holst-die-kampfmittel-der-sozialen-revolut…. […]

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  2. […] [6] Henriette Roland Holst – Van der Schalk wies bereits 1918 auf die Spaltung der Arbeiterklasse durch Gewalt im Klassenkampf hin, insbesondere auf die imperialistische Gewalt sowohl im zwischenimperialistischen Krieg als auch in den nationalen Befreiungskriegen (die sie unterstützte). Siehe Henriette Roland Holst, De strijdmiddelen van de sociale revolutie. Als Buch auf Deutsch: Die Kampfmittel der sozialen Revolution (1918): https://arbeiterstimmen.wordpress.com/2023/09/14/h-roland-holst-die-kampfmittel-der-sozialen-revolut…. […]

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