Axel Weipert, Die Zweite Revolution. Rätebewegung in Berlin 1919/1920

Buchbesprechung von Philippe Bourrinet

Axel Weipert, Die Zweite Revolution. Rätebewegung in Berlin 1919/1920, be.bra-wissenschaft Verlag, Berlin-Brandenburg, 2015, 476 p., €32,00.

Die Geschichte der Rätebewegung schien längst veraltete Geschichtsschreibung zu sein, nachdem es in den 1960er und 1970er Jahren in beiden Teilen Deutschlands eine Unzahl von Studien gegeben hatte, die oft unter klaren ideologischen Bannern standen: Demokratie gegen Diktatur. Nach einem langen historiografischen Schlaf über die revolutionären Ereignisse in Deutschland nach dem angeblichen „Fall des Kommunismus“ erschienen 2013 mit einem Band über den Hamburger Arbeiter- und Soldatenrat wichtige Studien zur Rätebewegung. Axel Weiperts 2015 in Berlin erschienene Studie ist ein sehr bemerkenswerter Beitrag der neuen Historiografie nach dem Fall der Mauer, die sich diesmal der „zweiten Revolution“ widmet, der zweiten Phase der Rätebewegung nach der Niederlage der Arbeiter im Januar 1919 in Berlin.

Die historiografische Bedeutung von Weiperts Dissertation

Trotz ihrer herausragenden Bedeutung für die Revolutionsgeschichte wurde die Rätebewegung in Deutschland, die zwischen 1918 und 1920 aktiv war, von der bürgerlichen Geschichtsschreibung, sei sie „liberal-demokratisch“ oder „links“ (sozialdemokratisch und stalinistisch-kommunistisch), weitgehend verschwiegen.

Die Arbeiter- und Soldatenräte, die nach der militärischen Niederlage im November 1918 entstanden und schnell von der SPD übernommen wurden, hatten ein doppeltes Ziel: eine politische Umwälzung, die die „bürgerlich-demokratische Revolution“ von 1848 fortzusetzen schien und auf die „Modernisierung“ der Strukturen des deutschen imperialistischen Staates abzielte, und eine radikale soziale Umwälzung im Gefolge der Russischen Revolution: die internationale sozialistische Revolution, die von der Machtergreifung der in Räten organisierten bewaffneten Arbeiter geprägt war.

Dieser Punkt taucht episodisch in Axel Weiperts Dissertation auf, die nur selten über den deutschen oder gar Berliner Rahmen hinausgeht.

Für rechte Historiker beschworen die Räte das Gespenst der „kommunistischen Revolution“ herauf, die mit dem staatlichen „Kommunismus“ (d. h. dem Staatskapitalismus) gleichgesetzt wurde, von dem die DDR eine der schönsten Blüten war.

Für viele linksgerichtete Historiker waren die Räte dazu bestimmt, vorübergehend zu sein. Sie konnten nicht am Leben bleiben, indem sie weiterhin den revolutionären Willen der Arbeiter zum Ausdruck brachten, sondern mussten sich der Parteipolitik der „Arbeiterparteien“ – von den Sozialdemokraten (SPD und USPD) bis zur Kommunistischen Partei – im Rahmen einer breiten politischen und gewerkschaftlichen Einheitsfront beugen. Die Macht der Arbeiterräte sollte nicht von unten, sondern von oben entstehen, wobei die „Arbeiter“-Parteien und -Gewerkschaften an die „sozialistische“ Demokratie von Weimar angegliedert wurden.

Die Notwendigkeit einer Einheitsfront der „Arbeiterparteien“ war das Leitmotiv der Trotzkisten (Pierre Broué, La Révolution allemande, 1971 und sogar Chris Harman, The Lost Revolution 1917-1923, 1982). Beide machten das Jahr 1923 – und nicht die Jahre 1919/20 – zu einer einzigartigen Gelegenheit, im Namen der „Einheitsfront“ der „Arbeiter“-Parteien und -Gewerkschaften die Macht von oben zu ergreifen.

Weipert vermeidet es sowohl in seinen Analysen als auch in seiner Bibliografie, die trotzkistischen Thesen zu erwähnen, in denen die Arbeiterräte nicht mehr die Selbstorganisation der Arbeiter selbst sind, sondern eine Art „formloses Arbeiterparlament“, das von den „Arbeiterparteien“ gebildet und kontrolliert wird, auch wenn es sich dabei um die Partei der Erschießer, die Partei von Noske-Ebert-Scheidemann, handelt.

Weipert weist zwar hier und da auf ihre militante Intervention hin, teilt aber nicht die radikale Analyse der Rätekommunisten (Pannekoek, AAU und KAPD). Sein Buch vertritt die Ansicht, dass die Arbeiterrevolution auf der Organisation von Arbeiterräten und den ihnen untergeordneten Betriebsräten basierte. Nur sie konnten die Revolution in Deutschland retten, das von der sozialdemokratischen Repression brutal getroffen wurde. Die Sozialdemokraten hatten sich in den kapitalistischen deutschen Staat integriert und führten eine unerbittliche Konterrevolution an, die sich auf die Söldner der Freikorps stützte, die von Reichswehroffizieren befehligt wurden.

***

Dieses Buch, dessen wichtigste Grundzüge wir hier zusammenfassend wiedergeben, zeigt, dass die Macht der Arbeiterräte nicht nur ein Zwischenspiel war, denn offiziell übergab im Dezember 1918 eine große Mehrheit der Arbeiter – unter der Dampfwalze der militärischen Gewalt und der Politik der SPD – alle Macht an die Konstituierende Versammlung und beendete damit einen kurzen Zustand der Doppelherrschaft.

Die Rätebewegung wurde von der SPD, die die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht anstiftete, offiziell zu Grabe getragen. Trotz der Niederschlagung des Aufstands im Januar 1919 nahm die Rätebewegung mit den Massenstreiks in Berlin im März 1919 (mindestens eine Million Streikende) wieder Fahrt auf. Diese Streiks wie auch die Aufstände, die bis 1920/21 stattfanden (insbesondere im Ruhrgebiet und in Mitteldeutschland), wurden alle von einer robusten Rätebewegung getragen, die ihre Waffen noch nicht niedergelegt hatte und sich weigerte, vor der bürgerlichen Ordnung zu kapitulieren.

Fassen wir die wichtigsten Punkte dieses dicken Buches (ca. 480 Seiten, einschließlich Anhänge) zusammen.

Der Generalstreik in Berlin (März 1919)

Weipert betont sehr ausführlich die Rolle der Räte in der Streikbewegung vom März 1919. Er sieht vor allem in der schlechten Koordination der Bewegung, ihrer Spaltung, den Hauptgrund für ihre Niederlage: Die USPD und die KPD hatten ihre eigene Streikleitung. Die unabhängige USPD, die in den Räten eine große Mehrheit hatte, agierte weiterhin gemeinsam mit der SPD in der Vollversammung der Arbeiter- und Soldatenräte von Groß-Berlin. Doch noch bevor der Generalstreik in Berlin begann, war die Streikbewegung in anderen Teilen des Reiches zerschlagen worden.

Typischerweise verurteilten die Flugblätter der SPD den Streik als „bolschewistisch“ und damit verbrecherisch, während die Sozialdemokratie auf eine echte, friedliche und geordnete „Sozialisierung“ ohne Blutvergießen hinarbeitete:

„Arbeiter, laβt euch nichts vormachen! Die bezahlten Agenten des bolschewistisch-spartakistischen Rummels sind wieder am Werke, um die Betriebe stillzulegen [] Wo sie am Werke sind, bezeichnen Gewalttat und Verbrechen ihren Weg. Durch Putsche und wilde Streiks wird jede geordnete, produktive Tätigkeit zum Wiederaufbau unserer Wirtschaft planmäβig lahmgegelegt. Denkt an Ruβland, wo die bolschewistenherrschaft bereits hunderttausende von Todesopfern gefordert hat [] Aber es muβ sozialisiert werden und es wird sozialisiert werden. [] Arbeiter, lasst euch nicht durch demagogische Kniffenkeinen blauen Dunst vormachen. Die sozialistische (sic; Ph.B.) Regierung marschiert (sic; Ph.B.) trotzalledem“. (Weipert, S. 126)

Kein Blutvergießen? Die Märzstreiks in Berlin wurden von den Freikorps grausam niedergeschlagen (über 2.000 tote Arbeiter, darunter auch Kinder), die Presse der USPD (Die Freiheit) und der KPD (Rote Fahne) wurde mit Waffengewalt verboten. Wenn es bewaffnete Reaktionen der Arbeiter gegen den militärischen Belagerungszustand gab, so waren diese sehr minoritär und völlig unorganisiert. Die sogenannten „republikanischen“ Soldaten (Republikanische Soldatenwehr, RSW, die von der SPD gebildet wurde) und die Reste der Volksmarinedivision (VMD) wurden von Baron von Lüttwitz‘ Armeekorps, das 31.000 gut ausgebildete, schwer bewaffnete und zu allem bereite Soldaten umfasste, umzingelt und kurzerhand entwaffnet. Noske organisierte das Massaker brutal: „Jeder, der mit der Waffe in der Hand gegen die Regierungstruppen kämpft, wird sofort erschossen“. Sein Aufruf zum Mord wurde sogar in den Gefängnissen gehört: Inhaftierte Aktivisten wie Leo Jogiches, Spartakistenführer und ehemaliger Gefährte von Rosa Luxemburg, oder Heinrich Dorrenbach (einer der Militärkommandanten der VMD) wurden “auf der Flucht“ erschossen.

Das vergessene Massaker vor dem Reichstag (Januar 1920)

Eines der großen Verdienste von Weiperts Studie besteht darin, an die vergessenen Massaker zu erinnern, die von der SPD-geführten Soldateska begangen wurden. So zum Beispiel das Massaker vor dem Reichstag (13. Januar 1920), als das Betriebsrätegesetz auf die Tagesordnung gesetzt wurde, dessen Einführung einzig und allein dem Zweck diente, die Forderungen der Arbeiter zu brechen. Die von der Regierung gebildete Sicherheitspolizei (Sipo) (bestehend aus ehemaligen Freikorpsmitgliedern, die von Armeeoffizieren kommandiert wurden) schoss auf die riesige Menge der Demonstranten (über 100.000), vor allem KPD und USPD, die die Verabschiedung des Betriebsrätegesetzes und damit die Entmachtung der Räte in allen Betrieben ablehnten. Die Bilanz waren 42 Tote und mindestens 100 Verletzte, wobei die Sipo Kriegswaffen einsetzte: Granaten und Maschinengewehre.

Der Terror der Freikorps wurde also von der SPD legalisiert (und banalisiert), bevor er beim Kapp-Putsch (März 1920) und bei der Zerschlagung der Roten Ruhrarmee (April 1920) systematisch eingesetzt wurde.

Weipert sieht in dem Massaker vor dem Reichstag nicht eine unglückliche Verkettung von Umständen, bei der „rote“ Extremisten die Provokateure gespielt hätten, wie Liberale und Sozialdemokraten behaupten, um die staatliche Repression zu heiligen:

„Der 13. Januar ist in vielerlei Hinsicht ein Lehrstück über die politische Verhältnisse in Deutschland injener Zeit. Besonders deutlich zeigte sich hier, wie grundlegend unterschiedlich das Politikverständnis in der Rätebewegung einerseits und in den etablierten Institutionen andererseits war. (…) Während im Reichstagsgebäude die Parlamentarier berieten, standen draußen die Demonstranten, ohne direktes Mitspracherecht, dafür aber bedroht und schließlich beschossen von den bewaffneten Organen des Staates. Man glaubte, die Volksvertreter vor dem Volk schützen zu müssen. Und das mit reinemGewissen (…) nicht der Wille des Volkes und dessen Meinungsfreiheit waren im Mittelpunkt, sondern allein die freie Meinungsfreiheit der Parlamentarier“ (S. 185/6).

Die Rote Fahne vom 14. Januar 1920 fasste die Situation unmissverständlich zusammen: Es handelte sich nicht um einen „Volks“-Protest gegen das Betriebsrätegesetz, sondern um einen unerbittlichen Kampf zwischen dem „bürgerlichen Parlament“ und den „breiten Massen der Arbeiter und Angestellten“.

Die revolutionäre Betriebszentrale (der revolutionären Betriebsräte)

Weipert leistet auch Pionierarbeit, wenn er die kurze Geschichte der Revolutionären Betriebsratszentrale nachzeichnet, mit deren Hilfe die Basisaktivisten den Räten weiterhin eine Struktur gaben. Nachdem der Streik im März 1919 gescheitert war, wurde der Vollzugsrat der Räte im November schließlich verboten. Die Zentrale der Fabrikräte wurde am 27. und 28. Juli 1919 auf einer überregionalen Konferenz in Halle gegründet. Sie dominierte in Berlin, im Ruhrgebiet und in der Region Halle-Merseburg. Ihr tatsächliches Gewicht ermöglichte die Gründung einer Räteschule, in der die zukünftigen intellektuellen Führer der KAPD – wie Albert Fister und vor allem Alexander Schwab – eine große Rolle spielten.

Die Fabrikräte erlebten kaum einen lokalen Aufschwung, erholten sich aber kurzzeitig während der massiven Reaktion der Arbeiter auf den Kapp-Putsch. Auf dem Kongress der Fabrikräte in Berlin (5.-7. Oktober 1920) waren nur 26.000 Mitglieder der Zentrale beigetreten.

Danach spielte die Betriebsrätebewegung jedoch eher eine lächerliche Rolle, und das aus gutem Grund: Die Betriebsräte wurden von den offiziellen Gewerkschaften (Freie Gewerkschaften) abgeschottet. Die Befürworter einer „reinen Rätebewegung“ wie Richard Müller wurden in die von der KPD gegründete Gewerkschaftsbewegung integriert.

Die Bewegung der revolutionären Fabrikräte, die zu einer Gruppierung geworden war, wurde von den Rätekommunisten getragen, die in der KAPD und den Unionen (AAU und AAUD-E) organisiert waren. Weipert erwähnt sie kaum, aber durch seine immense Recherche in den Archiven der ehemaligen DDR tauchen wichtige Namen von Aktivisten auf: Kurt Nettball, Paul Wagner, Leo Fichtmann und Anna Classe, die als KAPD-Delegierte zum 3. Kongress der Komintern in Moskau reiste. Weipert schweigt über ihren Weg von der KAPD zur KPD und schließlich nach 1945 zur SED.

Von den Schülerräten

Weipert leistet auch Pionierarbeit, wenn er sich ausführlich mit den 1919 entstandenen Schüler- und Lehrlingsräten und vor allem den Arbeitslosenräten befasst. In den Jahren 1919-1920 war die Idee der Räte nicht nur in den großen Fabriken Berlins verankert, sondern in weiten Teilen der Gesellschaft, insbesondere in der Schüler- und Lehrlingsjugend.

Im Sommer 1919 kam es in Berlin zu einem großen Schülerstreik, der von den Aktivitäten der Schülerräte getragen wurde. Diese waren sozial nicht homogen. Wie Weipert in seinem Vorwort betont, waren die Räte nicht von Natur aus „revolutionär“. In den bürgerlichen Vierteln Berlins setzten sich die Schülerräte dafür ein, dass Robert, der Sohn des ermordeten Kommunistenführers Karl Liebknecht, im Jahr seines Abiturs von der Schule suspendiert wurde. Die Sprösslinge der Bourgeoisie wollten sich nicht durch den Kontakt mit dem Sohn eines „roten“ Führers infizieren. Die reaktionären Räte waren jedoch in einer sehr starken Minderheit, da der Hass auf den Militarismus in der schulpflichtigen Jugend vorherrschte.

Die Mehrheit der Schülerräte, die 1919 den Schulstreik anführten, waren Arbeiterlehrlinge. Sie waren einer regelrechten Diktatur seitens der Schulleitung und vieler Lehrer ausgesetzt. Auf ihnen lasteten körperliche Strafen und die Androhung von Haft, und die Schüler wurden in Jugendkompanien militarisiert, die zur militärischen Vorbereitung auf das große Schlachten ausgebildet wurden.

Unter den Lehrlingsarbeitern herrschten sozialdemokratische Jugendorganisationen vor: der Sozialdemokratische Jugendverband Groß-Berlin (1.800 Mitglieder im Sommer 1919) und vor allem die Freie Sozialistische Jugend (FSJ) (6.000 Mitglieder im Herbst 1919, deren Sprachrohr die Junge Garde war), die sich zur KPD und im April 1920 zur KAPD entwickelten.

Es war die FSJ, die im Juni 1919 unter der Leitung von Paul Schiller (dem späteren KAPD-Führer) die treibende Kraft bei der Bildung von Schülerräten war. Die Organisation umfasste mehr als 10.000 Lehrlinge und junge Arbeiter, die sich gegen die Schuldiktatur und das Mobbing radikalisierten und für die Entfernung der kaiserlichen Symbole aus den Schulen eintraten. Sowohl von der SPD als auch von der USPD erhielten sie keine Unterstützung. Soldaten der Garde-Kavalleriedivision sperrten die Straßen, die zu den Schülerversammlungen führten, mit Maschinengewehrstellungen ab… Dagegen – so die Aussage eines ehemaligen KAPD-Mitarbeiters, Kurt Nettball – zeigten die Berliner Arbeiter demonstrativ ihre Solidarität mit den jungen Lehrlingen.

Die Bildung dieser Schülerräte, die sich wie in den Fabriken auf ein Netzwerk von „Vertrauensleuten“ stützten, war kein Berliner Einzelfall: Der gleiche Prozess findet sich auch in München während der Räterepublik.

Die Arbeitslosenräte in Berlin

Die Arbeitslosigkeit wurde ab Dezember 1918 mit der Demobilisierung und dem Einstellen der Kriegswirtschaft zu einem dominierenden Faktor des politischen Lebens in Deutschland. Acht Millionen Soldaten und 2,5 Millionen Rüstungsarbeiter waren ebenso arbeitslos wie die Flüchtlinge aus den an Frankreich und Polen angeschlossenen Gebieten. In den Jahren 1919 und 1920 entfiel ein Viertel der deutschen Arbeitslosen, die Sozialhilfe erhielten, auf Berlin.

Unter den proletarischen Kindern traten bald Krankheiten wie Tuberkulose und Rachitis auf, während der Hunger die Familien immer wieder zu Plünderungen von Lebensmittelgeschäften veranlasste.

Die Arbeitslosen durchliefen einen echten Politisierungsprozess – wenn sie nicht der vergeblichen Erwartung erlagen, von einem „sozialistischen“ Staat, der nicht zögerte, sie gnadenlos zu unterdrücken, Almosen zu erhalten. Im Sommer 1919 beteiligten sich 200.000 Arbeitslose und Geringverdiener am Mietstreik. Sie waren in Arbeitslosenräten organisiert, besetzten Betriebe und forderten Arbeit und Brot. Doch diese Versuche, die Organisation der Produktion selbst in die Hand zu nehmen, scheiterten.

Neben den Arbeitslosenräten entstanden ab September 1920 Aktionskomitees, die von KAPD-Aktivisten wie Leo Fichtmann geleitet wurden und eine energische Propaganda der Tat ausübten. Die radikalen Aktivisten der Aktionskomitees, die von den offiziellen Gewerkschaften, aber auch von KPD-Führern wie Brandler als Provokateure angeprangert wurden, forderten die Zerschlagung der Gewerkschaften und die Beseitigung des Bonzentums.

Diese radikalen Arbeitslosen, die stärker politisiert waren, wurden schließlich von den Arbeitern, die ihre Jobs behalten hatten, isoliert. Getragen von der Hoffnung, dass die Arbeiterräte bald die Macht übernehmen würden, um Brot und Arbeit für alle zu schaffen, wurden die organisierten und nicht organisierten radikalen Arbeitslosen zu den „Wütenden“ der Rätebewegung.

Frauen in der Rätebewegung: Minderheiten und Minorisierte

Wie in anderen Ländern, in denen Krieg herrschte, gewannen Frauen an Bedeutung, allerdings als Ersatz für die Männer, die zum Sterben an die Front geschickt wurden. Ihre Präsenz im Maschinenbau in Berlin wurde unverzichtbar: Ihre Zahl stieg von 29.000 vor 1914 auf 100.000. Die Lohndiskriminierung wurde ebenso eklatant: Ihre Löhne schwankten zwischen 45 und 60 Prozent des durchschnittlichen Männerlohns. Nach dem 9. November, als die Männer von der Front zurückkehrten, wurden sie als erste entlassen, vor allem verheiratete Frauen und Ausländerinnen in Berlin.

Bei den Wahlen gab es nie eine Proportionalität zwischen Männern und Frauen. In der Praxis der Räte spielten Frauen so gut wie keine Rolle. Auf dem zweiten Kongress der Räte (April 1919) gab es keine einzige sichtbare Frau unter den Gewählten! Die Kongressprotokolle bezeugen, dass keine einzige Frau das Wort ergriff! Wenn eine von ihnen für das Protokollieren des Wortlauts eingesetzt wurde, verdiente sie 30 Prozent weniger als ihr männlicher Kollege. Bei den Treffen der revolutionären Aktionskomitees im März 1920 tauchte kein einziger Frauenname auf. Selbst in den Arbeitslosenräten spielten sie eine sehr untergeordnete Rolle. Dennoch nahmen sie aktiv am Streik im März 1919 und sogar an den Straßenkämpfen teil, ebenso wie an der Demonstration vor dem Reichstag am 13. Januar 1920. Die Rätebewegung, selbst bei den radikalsten unter ihnen, beendete nicht die lästige Mentalität der männlichen Dominanz, ganz im Gegenteil.

Weipert muss es gestehen – Frauen spielten in der Praxis der Räte „fast gar keine Rolle“ (S. 336).

Beurteilung des Buches: Ideologische Vorannahmen und eine zu große Zentralität Berlins

Weipert möchte die Rätebewegung der „zweiten Revolution“ als Alternative „zu den bürokratisierten, bisweilen auch recht autoritären (sic; Ph.B.) Strukturen der organisierten Arbeiterbewegung“ (S. 13) profilieren. In sehr „zentristischer“ Weise stickt er den Mantel eines dritten Weges zwischen der parlamentarischen Demokratie, die von der (rechten wie linken) Sozialdemokratie geprägt ist, und der Rätediktatur „kommunistischer“ Prägung.

Dennoch neigt der Autor dazu, die „zweite Räterevolution“ als Wiederaufleben der ursprünglichen Rätebewegung zu idealisieren, ohne die Phasen ihres Niedergangs klar zu markieren.

Der sehr große Reichtum des Buches kann einige Schwächen nicht verbergen:

Wenig über die Protestströmungen, die sich an der Basis der Bewegung, in den großen Betrieben, bildeten. Weipert diskutiert zwar auf über 100 Seiten die Einflüsse von linken Parteien und Gewerkschaften auf die Bewegung. aber der Autor konzentriert sich, wie in der älteren Geschichtsschreibung, auf die Kongresse und Führungsgremien der Rätebewegung.

Kein systematischer Vergleich mit anderen regionalen Rätebewegungen (Hamburg, München, Ruhrgebiet, Südwest- und Mitteldeutschland, Oberschlesien). Die Reichshauptstadt war vielleicht entscheidend für die politische Radikalisierung der Arbeiter in Deutschland nach 1919, da sich die Konflikte hier in besonderer Weise zuspitzten. Aber Berlin war nicht Deutschland. Die Zersplitterung der regionalen Reaktionen war eine der Ursachen für das Scheitern.

Der bewaffnete Aufstand der Räte im Ruhrgebiet hätte angesichts seines Ausmaßes (50.000 bewaffnete Arbeiter) und seiner militärischen Organisation selbst eine ausführlichere Analyse verdient. Seine Isolation von Berlin, Hamburg und Mitteldeutschland erklärt sein Scheitern vor der Gegenoffensive des sozialdemokratischen Staates, der von den Freikorps unterstützt wurde.

***

Weipert hat dennoch eine immense, sorgfältige, gründliche und für einen Laien sehr gut lesbare Arbeit über einen ganzen vergessenen (und von der „liberalen“, SPD- und stalinistischen Geschichtsschreibung absichtlich verschleierten) Teil der Revolutionsgeschichte in Deutschland geleistet.

Weipert stellt kaum eine revolutionäre Alternative im heutigen kapitalistischen Deutschland auf. Die Rätebewegung der Zukunft erscheint als eine Kombination aus antiautoritärem Reformismus und Basisdemokratismus. So erklärt er in einem Interview mit der einflussreichen Berliner Tageszeitung [taz] (60.000 Exemplare, steht den Grünen, Feministinnen und Linksintellektuellen nahe):

„Gerade in der Kombination von basisdemokratischen und sozialistischen Ansätzen sehe ich eine wichtige Alternative zu einem übervorsichtigen Reformismus (?) und dem zu Recht gescheiterten Modell des autoritären Sozialismus (??) der DDR“.

Trotz seiner vor allem politischen Einschränkungen verdient es Weiperts Buch, einer nicht-deutschsprachigen Leserschaft (englisch-, französisch-, spanischsprachige Leserschaft usw.) bekannt gemacht zu werden. Es ist eine immense Forschungsarbeit, die so nah wie möglich an allen verfügbaren historischen Quellen in den großen, früher unerreichbaren Archiven (insbesondere dem SAPMO-Fonds in Berlin-Lichterfelde) ist, die wesentliche Akteure der Rätebewegung (Ernst Däumig, Richard Müller) hervorhebt, die nicht vergisst, hier und da die unbestreitbare revolutionäre Aktivität der KAPD zu erwähnen, und die eine offensichtliche Sympathie für alle Vergessenen der Räterevolution zeigt.

Jeder Beitrag zu einer guten Übersetzung der ‚Zweiten Revolution‘ ins Französische ist willkommen. Sie soll im Kielwasser der vom Verlag ‚Historical Materialism‘ ins Englische unternommenen Arbeiten erfolgen, der eine Online-Subskription eröffnet hat.

Dies wäre ein wichtiger Meilenstein in der Wiederaneignung der revolutionären Rätebewegung in Deutschland, die so unbekannt ist und oftmals von verschiedenen Ideologien, deren Ziel die Erhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung ist, völlig verzerrt wurde.

Die gegenwärtigen dramatischen Ereignisse (Krieg in der Ukraine, wachsende militärische Spannungen im indopazifischen Raum und um Taiwan), deren Logik der Ausbruch eines dritten Weltkriegs ist, dürfen die revolutionäre Perspektive nicht begraben, die durch die gegenwärtige Krise des kapitalistischen Weltsystems (einschließlich des „kommunistischen“ China …) eröffnet wurde.

Eine Reihe von Massenausbrüchen des Proletariats – mehr als ein Jahrhundert nach Russland 1917, Deutschland 1918 und Ungarn 1919 – könnte den tragischen Kurs in Richtung eines globalisierten Krieges umkehren. Dieser wird unvermeidlich, wenn das internationale Proletariat es versäumt, sich revolutionär zu organisieren, indem es seine eigenen Arbeiterräte mit einer klaren Vorstellung von ihren politischen Zielen hervorbringt: die Abschaffung des Kapitalismus und die Entstehung einer kommunistischen, ausbeutungsfreien Gesellschaft.

Ph. B., 9. Dezember 2022.

Quelle

Philippe Bourrinet, [Buchbesprechung] Axel Weipert, Die Zweite Revolution. Rätebewegung in Berlin 1919/1920 [La Deuxième Révolution. Le mouvement des conseils à Berlin, 1919-1920.

Übersetzung von F.C. Zitate aus dem Buch sind nicht rückübersetzt aus dem Franzoösischen.

Axel Weipert, Die Zweite Revolution. Rätebewegung in Berlin 1919/1920

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