
Die ganze Geschichte des Kapitalismus ist von der technisch-wirtschaftlichen Seite als Methode der Produktion aller notwendigen Lebensmittel betrachtet, eine unaufhaltsame Steigerung der Produktivität der Arbeit. Durch zwei verschiedene Mittel findet diese Steigerung statt, einerseits durch Verbesserung der Maschinen und technische Methoden, anderseits durch Erhöhung der Intensität der Arbeit. Beides hat den unmittelbaren Zweck den Mehrwert zu steigern und den Grad der Ausbeutung zu erhöhen. Während das eine die bessere Ausnützung des toten Materials, die Arbeiter unmittelbar nicht berührt, geht das andere sie um so mehr an, denn sie sind selbst das lebende Material, das besser ausgenützt werden soll. Das Taylorsystem bedeutet eine neue Methode der rationellen Ausnutzung der Arbeitskraft.
Der Name „wissenschaftliche Betriebsführung“, den Taylor seine Methode beilegt, zeigt schon an, daß er sie in Gegensatz zur den bisher üblichen gewohnheitsmäßigen Arbeitsmethoden setzt. Bisher wurde die Ausführung der Arbeit dem Arbeiter überlassen; er verfügte über die überlieferten Fachkenntnisse und Arbeitsregeln, die der Werkleitung selbst fremd sind; ihm wird also überlassen, die Aufgabe nach seiner persönlichen Geschicklichkeit zo lösen, und die Leitung beschränkt sich darauf, ihn durch besondere Lohnsysteme zur möglichsten Eile und Anstrengung zu „verlocken“. Nach dem Taylorsystem legt der Arbeiter sich seine Arbeit nicht nach eigener Einsicht zurecht, sondern sie wird ihm in jedem einzelnen Handgriff vorgeschrieben; dazu muß natürlich zuerst die Tätigkeit durch wissenschaftliche Analyse in ihren einzelnen Bestandteilen zerlegt werden. Was bisher im Kopfe des Arbeiters stattfand, die Zerlegung der Arbeit in die einzelnen Bewegungen, die er nacheinander auszuführen hat, wird jetzt in das Bureau der Werkleitung verlegt. Die geistige und die körperliche Tätigkeit, die in jedem Arbeitsprozess, als halb instinktive, halb bewußte Anwendung des überkommenen Fachwissens, fast unzertrennlich zusammengehen, werden hier getrennt; der geistige Teil wird in der Leitung zu einer wissenschaftlichen Zergliederung und dem Wiederaufbau der Arbeitshandlung, während dem Arbeiter nur der dumm-körperliche, rein mechanische Teil der Arbeit bleibt.
Diese Umwandlung ist außerordentlich ähnlich der früheren Umwandlung des Handwerks zur Manufaktur, die Marx in seinem „Kapital“ beschrieb. Die Anfertigung der Produkte, die bei dem früheren Handwerker eine persönliche Kunst war, in langen Lehrlingsjahren erlernt, ein untrennbares Ganzes von geistigem Wissen, Einsicht und Handfertigkeit, wurde da auf einen Gesamtmechanismus von Teilarbeiter überführt, deren jeder einzelne Handgriffe auszuführen hatte, während die geistige Einheit des Gesamtprozesses in dem Kapitalisten verkörpert war. So wie jede Umwandlung bedeutet auch das Taylorsystem eine Degradation, eine Erniedrigung des Arbeiters, dessen Arbeit dabei noch mechanischer, noch geistloser, noch öder, also noch unerträglich als bisher wird. Die alte Manufaktur hat sich durch die Ersetzung des Menschenmechanismus durch die wirkliche Maschinerie zur Industrie entwickelt. Wo der Arbeiter nur die Maschine zu bedienen hat und in ihrem Gange folgen muß, ist für das Taylorsystem kein Platz. Es tritt nur dort auf, wo der Arbeiter, gelernt oder ungelernt, noch Hauptfaktor der Arbeit ist und sich der Maschine bedient. Vielleicht wird auch hier die Zerlegung und Mechanisierung der Arbeit eine Vorstufe zum völligen automatischen Prozess sein; diese künftige Entwicklung wird jedoch in hohem Maße durch das Eingreifen des proletarischen Kampfes um die Herrschaft in Staat und Industrie bestimmt werden.
Bei Taylor ist aber diese Umwandlung kein Zweck, sondern nur Mittel zum Zweck der höheren Produktivität. Worauf es ankommt, ist, daß so eine viel größere Arbeitsleistung erzielt werden kann. Teilwiese geschieht as dadurch, daß überflüssige Bewegungen und unpraktische Handgriffe, die sich in der ererbten Gewohnheitsregeln der Arbeit vielfach vorfinden, beseitigt werden; wenn bei dem Mauern Ziegel und Mörtel auf besonderen Gerüsten in einer solchen Höhe angebracht werden, daß der Maurer sich nicht zu bücken braucht und in einer schnellen Weise zu ihnen gelangen kann, liegt darin eine wirkliche Ersparnis an Arbeitskraft. Aber die Hauptsache ist daneben eine Steigerung der Ausgabe von Arbeitskraft.
Taylor verwahrt sich ausdrücklich dagegen, daß unter seinem System der Betriebsführung die Arbeiter überanstrengt werden; er lege gerade Pausen ein, wo die Wirkung zu starker Ermüdung sich in der Arbeitsleistung geltend macht. Wie es damit aber in Wirklichkeit bestellt ist, zeigen seine langen Erörterungen über das „Zurückhalten der Arbeitskraft“, das „sich-von-der-Arbeit-drücken“ seitens der Arbeiter. Er ist überzeugt, daß die Arbeiter sich nicht bis zum äussersten anstrengen, nicht ihr Allerbestes geben, sondern absichtlich so langsam arbeiten, wie sie nur mit dem Scheine, sich tüchtig anzustrengen, vereinigen läßt. Diese Unsitte aus den Arbeitern auszutreiben, ist der Hauptzweck seiner neuen Betriebsmethode. Durch die Zerlegung der Arbeit in Einzelgriffe, deren notwendige Dauer mit der Stoppuhr festgelegt ist, bekommt die Leitung eine genaue Kontrolle über die Zeit, die bei ununterbrochener Arbeit nötig ist. Sie stellt von vornherein dem Arbeiter eine bestimmte, genau vorgeschriebene Aufgabe, ein Pensum, das er zu erledigen hat — „der hervorstechendste Grundzug beim neuen System ist die Pensumidee“ sagt Taylor selbst. Wer es gut erledigt, bekommt eine Zuschlagprämie zu seinem Lohn; wer hinter der Aufgabe zurückbleibt, wird als untauglich ausgeschieden. Durch diese Arbeitsmethode gelang es Taylor, die Produktion oft zu verdreifachen oder zu vervierfachen. Darin liegt die große Bedeutung seines Systems für die Unternehmer, deren Profit dadurch ungeheuer steigt. Darin liegt auch seine Bedeutung für die Arbeiter, die dadurch viel intensiver als früher abgerackert werden.
Es ist selbstverständlich, daß der Arbeiter sich aus freien Stücken nicht zum Äußersten anstrengt. Erstens hat er keinen Anlass dazu, denn bloß der Profit des Kapitalisten steigt dabei, während auf die Dauer sein Lohn, trotz zeitweiliger Prämien zum Ansporn, in derselben Höhe bleibt. Würde er es aber dennoch tun, so wäre seine Arbeitskraft rascher verbraucht, und er stände abgenutzt und kraftlos da, wie eine ausgepreßte Zitrone, außerstande, Frau und Kinder weiter au ernähren. Aus Selbsterhaltung, aus Pflicht gegen die Seinen, muß er mit seinem Engen Besitz, seiner Arbeitskraft, schonend umgehen. Der Fabrikant dagegen, der für ihn sofort Ersatz auf dem Arbeitsmarkt findet, sucht ihn mit allen Mitteln zur äußersten Ausnutzung seiner Arbeitskraft zu zwingen; in diesem stillen Krieg um die tiefsten Lebensinteressen ist die Taylorische Betriebsführung eine neue furchtbare Waffe des Unternehmertums. Die kleinen Pausen, die überflüssigen, unökonomischen Bewegungen entspringen einem Bedürfnis des menschlichen Körpers nach Abwechslung in Ruhe und Bewegung aller Organe; nur weil solche Poren der Arbeit vorhanden sind ist eine Arbeitszeit von 8 oder 9 Stunden auszuhalten, werden sie verstopft und wird alle Zeit mit der einzigen vorgeschriebenen Bewegung in solcher Intensität ausgeführt, wie sie sonst nur während eines Augenblicks möglich ist, so wird der Körper aufs schlimmste angegriffen. Der menschliche Organismus ist eben keine Maschine; werden von ihm Leistungen wie von einer Maschine verlangt, so muß er entarten und früher untauglich werden. Zwar glaubt Taylor daß er diese Wirkung verhindert durch die Pausen, die bei Ermüdung eingelegt werden; aber damit wird bloß das Gefühl der Ermüdung unterdrückt. Es ist jedem bekannt, daß ein ermüdeter Körper, wenn in irgendeiner Weise, z. B. durch starke Erregung oder gewaltige Willenserregung, diese Warnungsstimme unterdrückt wird, noch zu stärkeren Leistungen fähig ist; aber nachher kommt dann der Schaden. Nicht das Gefühl der Ermüdung, sondern die tatsächliche Summe der Leistungen bestimmt die Abnutzung des Körpers. Tatsache ist, da schon überall, wo seit Jahren das Taylorsystem angewandt wird, die Arbeiter früher aufgezehrt und verbraucht sind.
Kein Wunder, daß die Arbeiterschaft das unaufhaltsame Vordringen dieser Methoden mit Schrecken verfolgt. Dieses Vordringen ist noch um so schwerer zu verhindern, weil das System jeden Arbeiter individuell behandelt, den persönlichen Egoismus großzieht, die Solidarität bricht und die Organisation ausschaltet. Tatsächlich verhindern läßt sich seine Einführung wohl nicht; gegen entwickeltere Ausbeutungsmethoden können die Arbeiter nicht ankämpfen. Dennoch werden diese in einem Lande mit so entwickelter und fester Organisation wie Deutschland manches tun können, sich Einfluß und ein gewisses Mitbestimmungsrecht, eine Kontrolle bei deren Durchführung zu sichern und so ihre Schäden für die Arbeiter auf ein Minimum zu verringern. Die technischen Mittel dazu werden schon in den Gewerkschaften erörtert. Was dabei aber vor allem nötig ist, ist Macht, um gegenüber dem Unternehmertum den Willen und die Interessen der Arbeiter durchzusetzen. Mehr Macht ist daher auch von dieser Seite die Hauptforderung des Tages, das Fundament des Lebens; und diese Macht ist nur durch die Stärkung der Organisation und durch einen energischen revolutionären Angriffskampf auf die ganze bürgerliche Herrschaft zu gewinnen.
Quelle
Das Taylorsystem der Abrackerung / [Anton Pannekoek]. In: Leipziger Volkszeitung, 25. Juli 1914. Transkribiert von F.C., September 2022.