Der zwischenimperialistische Krieg in der Ukraine

– Von Luxemburg, Pannekoek, Gorter und Lenin zu „Rätekommu­nismus“ –

English, Dutch, Spanish

Fredo Corvo

Inhalt

Die Eskalation des Krieges in der Ukraine durch die russische Invasion hat im „demokratischen Westen“ bei denen, die sich als „Linke“ bezeichnen, zu allen möglichen Positionen geführt, was manchen überrascht hat. Dabei folgt die „Linke“ weitgehend gedankenlos den Ansichten der Massenmedien und der „sozialen“ Medien: Sie verurteilt die russische Invasion als einen Angriff, als einen Akt der Aggression gegen die Ukraine. Die Ukraine wird als eine sich entwickelnde Nation, eine junge Demokratie dargestellt. Natürlich muss die heldenhafte Verteidigung dieses Davids gegen den brutalen Goliath von uns unterstützt werden, mit Hilfspaketen für die Flüchtlinge und schließlich mit Waffenlieferungen.1

Mit dem Fortschreiten des Krieges treten Widersprüche zutage, denen gegenüber die Menschen Fragen zu stellen beginnen:

  • Der ukrainische Staat verteidigt seine nationale Unabhängigkeit, lehnt aber die nationale Unabhängigkeit der abtrünnigen russischsprachigen Gebiete ab, und es kommt sogar vor, dass russischsprachige Ukrainer daran gehindert werden, ihre Sprache zu sprechen.
  • Putin kämpft gegen den ukrainischen Faschismus, verhält sich aber wie ein Faschist und hat faschistische Bewunderer im Westen. Andrerseits hat sich herausgestellt, dass ein faschistisches Bataillon in die ukrainische Armee eingegliedert worden ist.
  • Russland schickt Wehrpflichtige auf eine so genannte Friedensmission. Die Ukraine trennt „wehrfähige“ Männer von ihren Frauen und Kindern, die vor dem Krieg fliehen.
  • China unterstützt Russland im UN-Sicherheitsrat, die Vereinigten Staaten und die Länder der NATO und der EU unterstützen die Ukraine nicht nur finanziell, sondern auch mit Waffen und militärischen Ausbildern.
  • Putin hoffte, dass durch den Krieg Zielinski durch einen pro-russischen Präsidenten ersetzt würde. Biden verriet, dass er hofft, dass dieser Krieg dazu führen wird, dass Putin durch einen pro-amerikanischen Präsidenten ersetzt wird.

Solche widersprüchlichen Fakten werfen Fragen auf. Die Kriegspropaganda auf beiden Seiten dreht und wendet sich, um zu antworten. Das gilt auch für die Linke im Westen.

Der Arbeiterismus und der gegenwärtige Krieg

Das Erstaunen über das eigene Festhalten an einer faktisch demokratischen Kriegspropaganda ist bei denjenigen Linken am größten und vielleicht am ehrlichsten, die in ihrem allgegenwärtigen „Arbeiterismus“ oder gar Populismus keine ausdrücklichen theoretischen Wurzeln mehr in der alten Arbeiterbewegung haben.

Dies genannten Strömungen gehen von dem aus, was die Arbeiter oder das (gemeine) Volk zu einem bestimmten Zeitpunkt denken und tun, auch wenn es unter dem erdrückenden Einfluss der bürgerlichen Ideologie und vor allem der kapitalistischen Realität der Ausbeutung und Unterdrückung, in diesem Fall auch die eines schrecklichen Krieges, steht. Indem sie ihre politischen Positionen realistisch mit diesem Alltagsbewusstsein verknüpfen, sind sie nicht in der Lage, die Einsichten vorzubringen, die sich aus der Vorstellung von der Arbeiterklasse als einer Klasse mit einer historischen Zukunft ergeben, die eine neue Produktionsweise und eine Gesellschaft ohne Krieg, Gewalt und ohne Staat, den Kommunismus, beinhaltet. Die Revolutionäre, die dies tun, beschuldigen sie des „Sektierertums“. In den kleinen und kleinbürgerlichen Niederlanden gibt es solche Linken nicht, und auch nicht in Flandern, soweit wir wissen. Aber in England heißen sie Angry Workers of the World, in Deutschland Wildcat, Kosmoprolet und Communaut. Diese Gruppen – wie auch die, die sie als Sekten bezeichnen – organisieren sich als mikroskopisch kleine Minderheitenorganisationen. Während die Sekten über eine programmatische Grundlage verfügen, in der sie ihre Lehren aus den vergangenen Klassenkämpfen zusammenfassen, organisieren sich die Arbeiteristen auf der Grundlage einiger vager Positionen, manchmal sogar ohne jegliche Positionen. Die Lehren, die die kommunistische Linke2 aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, aus dem Kalten Krieg und den so genannten nationalen Befreiungskriegen und anderen regionalen Kriegen, die direkt oder über Zwischenstaaten von imperialistischen Mächten geführt wurden, gezogen hat, sind den Arbeiteristen unbekannt und sie wollen nicht darüber nachdenken. Mit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine standen sie sprachlos da oder brachten bürgerlichen Unsinn vor, und oft waren sie untereinander zerstritten, wenn sie es überhaupt wagten, eine interne Diskussion zu führen. Das Versäumnis insbesondere dieser arbeiteristischen Gruppen, eine klare Position zum gegenwärtigen Krieg zu vertreten, ist ein Vorbote eines ähnlichen Versagens in einer vorrevolutionären Situation, in der sich eine bedeutende Minderheit kämpferischer und klassenbewusster Arbeiter unabhängig organisiert und von den Revolutionären eine klare Position fordert.

Die bürgerliche Linke beteiligt sich am Krieg

In diesem Artikel wird nicht auf die bürgerlichen linken Organisationen eingegangen, die aus der alten Arbeiterbewegung, der Sozialdemokratie und dem Bolschewismus in all seinen Formen (Stalinismus, Maoismus, Trotzkismus) hervorgegangen sind. Es genügt zu sagen, dass sie alle auf ihre Positionen für das eine oder andere Lager im Ersten Weltkrieg (Sozialdemokratie) und/oder im Zweiten Weltkrieg (Sozialdemokratie auf der Seite der Alliierten, Bolschewismus auf der Seite der Sowjetunion) zurückgreifen. Die Verteidigung der Sowjetunion in den Jahren 1939-1945 wurde mit dem Mythos gerechtfertigt, sie sei sozialistisch oder ein bürokratisierter Arbeiterstaat. Seit sich die Volksrepublik China in den 1960er Jahren von Russland losgesagt hat, dann den USA angeschlossen hat und nun wieder Russland verbunden ist, seit der Implosion der Sowjetunion und ihres imperialistischen Blocks, greifen die Organisationen, die ihre ideologischen Wurzeln im Bolschewismus haben, unter dem Deckmantel des Lenin’schen Selbstbestimmungsrechts der Nationen und der Lenin’schen Theorie des Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus nach den vielen Wendungen der Komintern. Und heute greifen Stalinisten, Maoisten und Trotzkisten auf dieses ideologische Erbe des Bolschewismus zurück, um sich entweder auf die Seite der Ukraine oder auf die Seite Russlands zu stellen oder irgendwo in den Schützengräben zwischen beiden einen Platz einzunehmen. Lenins Gesammelte Werke sind für diese Pharisäer, so wie es die Werke von Marx und Engels für die Kautskys und Cunows waren, die Schatzkammer, aus der sie nach Belieben Zitate fischen können, die die Arbeiter zur Teilnahme an diesem x-ten zwischenimperialistischen Massaker ermutigen.

Proletarischer Internationalismus im Ersten Weltkrieg

Die Unterstützung der Linken für die Ukraine oder Russland ignoriert die wirkliche Haltung Lenins im Ersten Weltkrieg, die des proletarischen Internationalismus gegen jede Beteiligung an diesem Krieg. In seiner praktischen Politik in den Jahren 1914-1918 vertrat Lenin weitgehend denselben Standpunkt wie die anderen Linkssozialisten, die sich später als Kommunisten bezeichneten, Luxemburg, Liebknecht, Rühle, Bordiga, Pankhurst, Pannekoek und Gorter.3 Diese Haltung, die als proletarischer Internationalismus bekannt wurde, lässt sich grob wie folgt zusammenfassen:

  • Mit der vollzogenen Aufteilung der Welt in kapitalistische Einflusssphären unter den kolonisierenden Ländern stellt der Erste Weltkrieg einen endgültigen Wendepunkt in der Geschichte des Kapitalismus dar.
  • Alle Länder, die sich direkt oder indirekt (durch „Neutralität“ wie die Niederlande und die Schweiz oder offen als Kredit- und/oder Waffenlieferant wie die USA bis April 1917) am Krieg beteiligten, handelten aus imperialistischen Erwägungen heraus, d.h. sie strebten danach, das Beste aus der kapitalistischen Umverteilung der Welt zu machen, die sich aus dem Krieg ergab.
  • Die „Vaterlandsverteidigung“, zu der die meisten Parteien der Zweiten Internationale aufrufen, ist lediglich die Parole, mit der sie die Arbeiter der verschiedenen Länder dazu aufrufen, sich gegenseitig für die Interessen des Kapitals zu massakrieren.
  • Für die Arbeiterklasse in allen Ländern gilt Folgendes:
    • der Feind steht im eigenen Land,
    • (Klassen-)Krieg gegen den („zwischenimperialistischen“) Krieg,
    • kein Klassenfrieden, sondern Fortführung des Arbeiterkampfes bis zur Revolution,
    • auch wenn dies zur Niederlage des „eigenen“ Landes im Krieg führt (revolutionärer Defätismus),
    • die Umwandlung des imperialistischen Krieges in eine proletarische Weltrevolution.

Der Unterschied zwischen Lenin und den anderen Links-Sozialisten, den späteren Kommunisten, von denen einige zur der Kommunistischen Linke gehören sollten, bestand darin, dass Lenin seinen proletarischen Internationalismus auf den Ersten Weltkrieg beschränkte. Für die anderen war der Erste Weltkrieg ein historischer Wendepunkt, der jeder Möglichkeit nationaler Kriege ein Ende setzte.

Imperialismus, ein Wort mit vielen Bedeutungen

Warum sollten wir den Begriff Imperialismus weiterhin verwenden, wo er doch so sehr missbraucht wird? Das wird von einigen marxistischen Strömungen und Theoretikern vertreten. Es gibt verschiedene Gründe für die Vermeidung des Wortes Imperialismus, auf die wir hier nicht eingehen werden. Der Punkt ist, dass durch die Nichtverwendung des Begriffs, des Wortes, die theoretischen und damit äußerst praktischen Unterschiede zwischen verschiedenen inhaltlichen Bedeutungen des Imperialismus unklar bleiben. Diesen inhaltlichen Unterschieden müssen wir uns zuwenden, um das Problem des gegenwärtigen Krieges in der Ukraine – und der Kriege, die folgen werden – vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus zu betrachten. Die Berufung dieser Wortverweigerer auf das Wörterbuch für eine Definition, die sie nicht akzeptieren, ihr Verweis auf die Ursprünge des Wortes, von den Griechen und Römern bis zu Hobson’s Imperialismus (1902), kann es nicht rechtfertigen, dass sie die verschiedenen spezifischen Bedeutungen des Wortes ignorieren. Vor allem wegen der Bedeutung, die der Imperialismus für Lenin und andere Marxisten hatte, die 1914-1918 auf noch einem anderen Konzept bestanden: dem proletarischen Internationalismus, der damals wie heute vermieden, verleumdet oder verfälscht wird.

Aber sollten wir dann nicht zu Marx zurückkehren, der das Wort Imperialismus offenbar nicht verwendet hat, wohl aber den Begriff Krieg? Das ist durchaus möglich. Und wenn wir das Rad nicht neu erfinden wollen, nutzen wir die heftige Polemik des Ersten Weltkriegs zwischen den Sozialdemokraten auf der einen Seite, die den Krieg der eigenen Bourgeoisie mit Marx-Zitaten unterstützten, und denjenigen auf der anderen Seite, die sich auf Marx beriefen und sagten: „Der Feind steht im eigenen Land“. Ja, dann sind wir wieder beim Imperialismus, der in der Zeit des Ersten Weltkriegs eine besondere Bedeutung bekam. In all den Bedeutungen, die die Gegner der „Vaterlandsverteidigung“ dem Imperialismus geben, gibt es eine gemeinsame Sichtweise der Entwicklung des Kapitalismus seit Marx.

Marx argumentierte, dass die Konkurrenz „die Existenzform des Kapitals“ sei, und je mehr sich der Kapitalismus entwickle, desto mehr müsse sich die Konkurrenz entwickeln. Marx hat in seiner Kritik an Proudhon den Nagel auf den Kopf getroffen, als er sagte, das Kapital reproduziert sich in der Konkurrenz, im Monopol und in der Konkurrenz der Monopole.4 Nach Marx‘ Zeiten hat die internationale Entwicklung des Kapitalismus einen Punkt erreicht, an dem der Imperialismus notwendig ist. Das ist die Politik, die alle Staaten und Kapitale verfolgen müssen. Gleichzeitig, und nicht zufällig, ist der Kapitalismus durch das Großkapital gekennzeichnet. Großes Kapital konkurriert notwendigerweise in großem Maßstab und mit großen Ressourcen. Daher ist der Militarismus Ausdruck der etablierten und unumkehrbaren Tendenz des entwickelten Kapitalismus, immer zu konkurrieren und sich an die Konkurrenz anzupassen, indem er nach Strategien sucht, mit denen er versucht, eine bessere Position als seine Konkurrenten einzunehmen. Schon der Titel von Lenins wichtigstem Werk Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1916) zeigt, dass er in diesem Punkt mit Luxemburg, Gorter und Pannekoek übereinstimmte.

Lenin besteht jedoch, wie wir sehen werden, von seinem Standpunkt des Selbstbestimmungsrechts der Nationen aus auf der Möglichkeit, dass es unter bestimmten Umständen „imperialistische Länder“ und „beherrschte Länder“ gibt. Dies lässt die Möglichkeit der Unterstützung von bürgerlichen Gruppen offen. Seine Gegnerin innerhalb der russischen Sozialdemokratie, Rosa Luxemburg, lehnte die Existenz eines solchen Völkerrechts ab, weil es die Arbeiter der eigenen Bourgeoisie ausliefere. Ihre Position wurde nach der Revolution in Russland durch die Geschichte Polens und der Ukraine auf tragische Weise bestätigt.

Rosa Luxemburg und der Imperialismus

Rosa Luxemburgs damalige Sonderstellung in der Frage des nationalen Krieges und des Selbstbestimmungsrechts der Nationen speiste sich aus ihrer Überzeugung, dass die in der russischen, polnischen und deutschen Sozialdemokratie vorherrschenden Auffassungen in diesem Punkt durch die kapitalistische Entwicklung überholt waren. In ihrer Dissertation Die industrielle Entwicklung Polens (1893) zeigte sie, dass Polen dank des großen russischen Absatzmarktes in wirtschaftlicher Hinsicht ein integraler Bestandteil des zaristischen Russischen Reiches geworden war. Außerhalb des russischen Reiches hatte der Kapitalismus in Polen und damit auch der Kampf der Arbeiter keine Zukunft. Dies untermauerte ihre Weigerung, die Unabhängigkeit eines polnischen Nationalstaates zu unterstützen5 , die damals von anderen Sozialdemokraten mit dem Hinweis auf die Ansichten von Marx und Engels6 verteidigt wurde. Liebknecht, Kautsky und Plechanow argumentierten, dass Marx ein unabhängiges Polen und eine starke Türkei wollte, um Russland zu schwächen. So machten diese Marxisten des orthodoxen Zentrums der Partei das, was für Marx eine historisch begrenzte Position war, zu einer unumstößlichen Doktrin.7 Noch gravierender war die orthodoxe Gleichsetzung von proletarischen und bürgerlichen Interessen in der Nationalitätenfrage. Aus der Korrespondenz zwischen Marx und Engels, die erst nach Luxemburgs Tod erschien, geht hervor, dass ihre Vorstellung von Polen tatsächlich von strategischen und damit veränderlichen Erwägungen diktiert wurde. So schrieb Engels am 23.5.1851 an Marx:

Je mehr ich über die Geschichte nachdenke, desto klarer wird es mir, dass die Polen une nation foutue [eine erledigte Nation] sind, die nur so lange als Mittel zu brauchen sind, bis Russland selbst in die agrarische revolution hineingerissen ist. Von dem Moment an hat Polen absolut keine raison d’être [Daseinsberechtigung] mehr.8

Luxemburg hielt die gemeinsame Auffassung, dass ein proletarischer Internationalismus nur auf der Grundlage der nationalen Unabhängigkeit Polens möglich sei, für überholt durch die industrielle Entwicklung sowohl Russlands als auch Polens und die damit einhergehende Möglichkeit einer sozialen Revolution . Die „russische“ und zugleich „polnische“ Revolution von 1905 gab Luxemburg Recht. Ermutigt durch ihre historische Bestätigung machte sich Luxemburg an die Arbeit, ihre These auf die historische Überflüssigkeit nationaler Kriege auszudehnen, die die Entwicklung des Kapitalismus im globalen Maßstab vorantreiben könnten. Sie entwickelte eine Theorie des Imperialismus und auch der ökonomischen Krise bzw. der Akkumulation des Kapitals, die die historische Vergänglichkeit der kapitalistischen Produktionsweise und damit den Beginn einer Periode der sozialen Revolution ankündigte.

Rosa Luxemburg wies schon in ihrem Kampf gegen den Revisionismus auf die Bedeutung der Ausweitung des Weltmarktes für die Fortsetzung der Wachstumsphase des Kapitalismus hin. Auf der Grundlage dieser Idee entwickelte sie eine Theorie der Kapitalakkumulation und des Imperialismus, um die Phase der sozialen Revolution besser zu verstehen.9 Luxemburgs Imperialismustheorie stimmt mit den folgenden Aussagen von Marx und Engels im Manifest der Kommunistischen Partei (1848) überein:

Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.

Die Bourgeoisie hat durch ihre [12] Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumption aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien (…)

Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter [20] Märkte. Wodurch also? Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.10

Dieser Aspekt der langfristigen und weltgeschichtlichen Entwicklung des Kapitals tritt im „Kapital“ erst in den Vordergrund, wenn Marx die Revolution diskutiert. Das Kapital analysiert die dem Kapitalismus innewohnenden Widersprüche und kaum die Art und Weise, wie diese durch die Expansion des kapitalistischen Weltmarkts vorübergehend überwunden werden können:

In der Darstellung der Versachlichung der Produktionsverhältnisse und ihrer Verselbständigung gegenüber den Produktionsagenten gehen wir nicht ein auf die Art und Weise, wie die Zusammenhänge durch den Weltmarkt, seine Konjunkturen, die Bewegung der Marktpreise, die Perioden des Kredits, die Zyklen der Industrie und des Handels, die Abwechslung der Prosperität und der Krise, ihnen als übermächtige, sie willenlos beherrschende Naturgesetze erscheinen und sich ihnen gegenüber als blinde Notwendigkeit geltend machen. Deswegen nicht, weil die wirkliche Bewegung der Konkurrenz außerhalb unsers Plans liegt und wir nur die innere Organisation der kapitalistischen Produktionsweise, sozusagen in ihrem idealen Durchschnitt, darzustellen haben 11

Luxemburg hingegen stellte 1913 in Die Akkumulation des Kapitals den Imperialismus, also die Ausdehnung des Kapitalismus auf nicht-kapitalistische Gebiete, in den Mittelpunkt. Deshalb musste sie zunächst die theoretischen Voraussetzungen des Kapitals klären:

Wir haben gesehen, dass Marx konsequent und bewusst als die theoretische Voraussetzung seiner Analyse in allen drei Bänden des „Kapitals“ die allgemeine und ausschließliche Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise annimmt. (…) Diese Voraussetzung ist theoretischer Notbehelf – in Wirklichkeit gab und gibt es nirgends eine sich selbst genügende kapitalistische Gesellschaft mit ausschließlicher Herrschaft der kapitalistischen Produktion.12

Rosa Luxemburg kritisiert die Marx’sche Abstraktion des Weltmarktes, da sie, wie sie im Vorwort zu Die Akkumulation schreibt, die Beschreibung der objektiven historischen Begrenzung der kapitalistischen Produktion und der Praxis der gegenwärtigen imperialistischen Politik und ihrer ökonomischen Wurzeln behindert. Zu diesem Zweck konzentriert sie sich auf die erweiterte Reproduktion des gesellschaftlichen Gesammtkapitals in Band II des Kapitals. Ich lasse diese komplizierte (und umstrittene!) ökonomische Frage hier beiseite, um mich auf die wichtigsten sozialen, politischen und historischen Aspekte von Luxemburgs Theorie des Imperialismus zu konzentrieren:

In dem Moment, wo das Marxsche Schema der erweiterten Reproduktion der Wirklichkeit entspricht, zeigt es den Ausgang, die historische Schranke der Akkumulationsbewegung an, also das Ende der kapitalistischen Produktion. (…) Daraus ergibt sich die widerspruchsvolle Bewegung der letzten, imperialistischen Phase als der Schlussperiode in der geschichtlichen Laufbahn des Kapitals.13

Rosa Luxemburg schrieb 1913, ein Jahr vor Ausbruch des Weltkriegs: „Damit ist nicht gesagt, dass dieser Endpunkt pedantisch erreicht werden muss. Schon die Tendenz zu diesem Endziel der kapitalistischen Entwicklung außer sich in Formen, die die Schlussphase des Kapitalismus zu einer Periode von Katastrophen gestalten„. (ebenda S. 391/2). Sie sagt kein objektives Ende des Kapitalismus voraus, auf das die Arbeiterklasse mit verschränkten Armen warten kann. Die vom Kapital herbeigeführten Katastrophen würden „die Rebellion der internationalen Arbeiterklasse gegen die Kapitalherrschaft zur Notwendigkeit machen werden, selbst ehe sie noch ökonomisch auf ihre natürliche selbstgeschaffene Schranke gestoßen ist .“ (ebenda S. 411)

Fünf Jahre später, nachdem der Erste Weltkrieg ein beispielloses Gemetzel angerichtet hatte und Europa in Trümmern lag, musste Rosa Luxemburg feststellen, dass die bürgerliche Klassenherrschaft ihre Existenzberechtigung verwirkt hatte.14 Im Parteiprogramm des Spartakusbundes, mitten in der deutschen Revolution, bezieht sich Rosa Luxemburg auf eine Passage aus dem Kommunistischen Manifest:

Über den zusammensinkende Mauern der kapitalistischen Gesellschaft lodern wie ein feuriges Menetekel die Worte des Kommunistischen Manifests: Sozialismus oder Untergang in der Barbarei! 15

Diese Aussage ist im Kommunistischen Manifest nirgends wörtlich zu finden. Marx und Engels schreiben: „Die Gesellschaft findet sich plötzlich in einem Zustand momentaner Barbarei zurückversetzt“, verursacht durch die periodischen Handelskrisen. Marx und Engels weisen auch darauf hin – siehe oben -, dass diese Krisen des Kapitalismus durch die Expansion des Kapitalismus im Weltmaßstab überwunden werden können. Rosa Luxemburg folgert daraus, dass der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, sobald dieser Widerspruch global geworden ist, unlösbar ist. Die fortschrittliche Periode des Kapitalismus ist vorbei und die Periode der sozialen Revolution hat begonnen:

Der Weltkrieg hat die Gesellschaft vor die Alternative gestellt: entweder Fortdauer des Kapitalismus, neue Kriege und baldigster Untergang im Chaos und in der Anarchie oder Abschaffung der kapitalistischen Ausbeutung
Mit dem Ausgang des Weltkrieges hat die bürgerliche Klassenherrschaft ihr Daseinsrecht verwirkt. Sie ist nicht mehr imstande, die Gesellschaft aus dem furchtbaren wirtschaftlichen Zusammenbruch herauszuführen, den die imperialistische Orgie hinterlassen hat.(…)
Nur die Weltrevolution des Proletariats kann in dieses Chaos Ordnung bringen (…) 16

Nach den Morden an Luxemburg und Liebknecht im Jahr 1919, die auf Veranlassung der SPD-Regierung begangen wurden, wurde die Parteiführung von Paul Levi übernommen. 1920 schließt die Minderheit (!) die Mehrheit der KPD(S) aus wegen ihrer Positionen gegen die Teilnahme an Wahlen und gegen die in ein staatliches Organ umgewandelte Gewerkschaftsbewegung. Die ausgeschlossene Mehrheit bildete die KAPD, die in ihrem Gründungsprogramm Rosa Luxemburgs Erklärung Sozialismus oder Barbarei zitiert und den Ersten Weltkrieg ausdrücklich zur Grenze zwischen der fortschrittlichen Periode und der Periode der sozialen Revolution macht:

Nicht um eine der in periodischem Ablauf eintretenden, der kapitalistischen Produktionsweise eigentümlichen Wirtschaftskrisen handelt es sich heute, es ist die Krise des Kapitalismus selbst, was unter krampfhaften Erschütterungen des gesamten sozialen Organismus, was unter dem furchtbarsten Zusammenprall der Klassengegensätze von noch nicht dagewesener Schärfe, was als Massenelend innerhalb der breitesten Volksschichten als das Menetekel der bürgerlichen Gesellschaft sich ankündigt (…) 17

Marx hatte aber im Manifest nur von einer Periode der sozialen Revolution im Zusammenhang mit den periodischen Krisen gesprochen.

In der deutschen und niederländischen kommunistischen Linken wurden unterschiedliche ökonomische Erklärungen für den Beginn dieser historischen Wende des Imperialismus herangezogen, die der Sättigung der Märkte bei Luxemburg oder die des Falles der Profitrate bei Grossmann/Mattick. Damit wurde der Imperialismus mit dem Vorhandensein einer Periode der Dekadenz oder Niedergangs des Kapitalismus verbunden, die auch die Periode der sozialen Revolution sein würde. Diese Verbindung wurde allgemein von der Komintern und der Italienischen Kommunistischen Linken geteilt.

  • Die einzige Ausnahme war Anton Pannekoek. Pannekoek hat sich immer gegen die Vorstellung eines mechanischen oder rein wirtschaftlichen Zusammenbruchs des Kapitalismus gewandt. Zu diesem Zweck stellte er die theoretischen Grundlagen sowohl der Luxemburger Krisentheorie als auch der späteren Grossmann/Mattick-Theorie in Frage. Pannekoek ging davon aus, dass der Kapitalismus in der Lage sein würde, sich aus jeder periodischen Krise zu retten. Ein Ende wäre erst mit der Erschöpfung der Rohstoffe oder „wahrscheinlicher“ mit dem Fehlen einer industriellen Reservearmee in der kapitalistischen Entwicklung Asiens erreicht. Keines dieser Phänomene ist eingetreten, dafür aber die bereits von Pannekoek angeprangerte Zerstörung der Natur.18 Auch habe der Imperialismus keine wirtschaftlichen Ursachen, so Pannekoek. Seiner Meinung nach war der Imperialismus das Ergebnis der Dominanz des Großkapitals in der Eisen- und Stahlindustrie in Verbindung mit der Macht der Banken, die dem gesamten Kapital aufgezwungen wurde.19 Pannekoek trennt also die Ära des Imperialismus von der Existenz einer Periode des Niedergangs des Kapitalismus und/oder dem Beginn einer längeren Periode der sozialen Revolution. Es sei darauf hingewiesen, dass der Kapitalismus bisher weder durch die Sättigung des Weltmarktes noch durch den tendenziellen Rückgang der Profitrate zusammengebrochen ist.

Aber kommen wir zurück zum Thema dieses Artikels. Luxemburgs Auffassung vom Imperialismus wird in den Leitsätzen über die Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie (1915-1916) deutlich.:

9. Der Imperialismus als letzte Lebensphase und höchste Entfaltung der politischen Weltherrschaft des Kapitals ist der gemeinsame Todfeind des Proletariats aller Länder. Aber er teilt auch mit den früheren Phasen des Kapitalismus das Schicksal, die Kräfte seines Todfeinds in demselben Umfange zu stärken, wie er sich selbst entfaltet. Er beschleunigt die Konzentration des Kapitals, die Zermürbung des Mittelstands, die Vermehrung des Proletariats, weckt den wachsenden Widerstand der Massen und führt so zur intensiven Verschärfung der Klassengegensätze. Gegen den Imperialismus muß der proletarische Klassenkampf im Frieden wie im Krieg in erster Reihe konzentriert werden. Der Kampf gegen ihn ist für das internationale Proletariat zugleich der Kampf um die politische Macht im Staate, die entscheidende Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Das sozialistische Endziel wird von dem internationalen Proletariat nur verwirklicht, indem es gegen den Imperialismus auf der ganzen Linie Front macht und die Losung: „Krieg dem Kriege“ unter Aufbietung der vollen Kraft und des äußersten Opfermutes zur Richtschnur seiner praktischen Politik erhebt.20

Lenin und Luxemburg waren sich weitgehend einig in der Charakterisierung des Imperialismus als die letzte Phase und höchste Entfaltung der politischen Weltherrschaft des Kapitals. Lenin beharrte jedoch auf der theoretischen Möglichkeit nationaler Kriege. Dies spiegelt sich in seiner Kritik an Luxemburgs Theorem 5 der gleichen Leitsätze in folgendem Auszug wider, der seine Ansicht deutlich macht, dass einige Länder imperialistisch sind und andere – unter bestimmten Umständen – nicht:

Von den irrigen Auffassungen Junius’ ist die erste in der 5. These der Gruppe lnternationale festgelegt: „… In der Ära dieses entfesselten Imperialismus kann es keine nationalen Kriege mehr geben. Die nationalen Interessen dienen nur als Täuschungsmittel, um die arbeitenden Volksmassen ihrem Todfeind, dem Imperialismus, dienstbar zu machen …“ Der Anfang der 5. These, die mit diesem Satz endet, ist der Charakteristik des jetzigen Krieges als eines imperialistischen gewidmet. Es ist möglich, daß die Verneinung nationaler Kriege schlechthin entweder ein Versehen oder aber eine zufällige Übertreibung bei der Betonung des völlig richtigen Gedankens ist, daß der jetzige Krieg ein imperialistischer und kein nationaler Krieg ist. Da aber auch das Gegenteil der Fall sein kann, da die irrige Verneinung aller nationalen Kriege als Reaktion auf die fälschliche Darstellung des jetzigen Krieges als eines nationalen Krieges bei verschiedenen Sozialdemokraten festzustellen ist, so müssen wir auf diesen Fehler näher eingehen.

Junius hat vollkommen recht, wenn er den entscheidenden Einfluß des „imperialistischen Milieus“ im jetzigen Krieg hervorhebt, wenn er sagt, daß hinter Serbien Rußland, „hinter dem serbischen Nationalismus der russische Imperialismus steht“ und daß die Teilnahme beispielsweise Hollands am Krieg ebenfalls imperialistischen Charakter trüge, da es erstens seine Kolonien verteidigen würde und zweitens der Verbündete einer der imperialistischen Koalitionen wäre. Das ist unbestreitbar – in bezug auf den jetzigen Krieg. Und wenn Junius hierbei besonders hervorhebt, was für ihn in erster Linie wichtig ist: den Kampf gegen das „Phantom des ‚nationalen Krieges‘, das die sozialdemokratische Politik gegenwärtig beherrscht“ (S. 81), so muß man seine Ausführungen als richtig und durchaus angebracht anerkennen.

Ein Fehler wäre es nur, wollte man diese Wahrheit übertreiben, von der marxistischen Forderung, konkret zu bleiben, abweichen, die Einschätzung des jetzigen Krieges auf alle im Imperialismus möglichen Kriege übertragen und die nationalen Bewegungen gegen den Imperialismus vergessen. Das einzige Argument zur Verteidigung der These „nationale Kriege kann es nicht mehr geben“ ist, daß die Welt unter ein kleines Häuflein imperialistischer „Großmächte“ aufgeteilt ist und daß darum ein jeder Krieg, sei er auch ursprünglich ein nationaler Krieg, in einen imperialistischen Krieg umschlägt, da er die Interessen einer der imperialistischen Mächte oder Koalitionen berührt (S. 81 bei Junius).21

Dieses Argument, dass die Welt seit dem Ersten Weltkrieg in Einflusssphären kapitalistischer Staaten aufgeteilt ist, ist in der Tat ein wesentlicher Bestandteil der Auffassung sowohl von Rosa Luxemburg als auch von Gorter und Pannekoek, dass der Imperialismus eine Politik aller Staaten ist. Lenin hingegen hält sich die theoretische Möglichkeit offen, dass bestimmte Nationen durch ihren nationalen Befreiungskampf dieser Aufteilung der Welt durch den Imperialismus entkommen können.

Anton Pannekoek und der Imperialismus

Pannekoeks Sicht des Imperialismus findet sich in Der Zusammenbruch der Internationale, das im August 1914 auf Niederländisch erschien und ins Deutsche und Englische übersetzt wurde. Es war der allererste Text der ehemaligen linken Opposition innerhalb der Sozialdemokratie. In Teil III dieses Artikels beschreibt Pannekoek den Imperialismus als „die Politik und Ideologie des modernen Großkapitalismus“, die die gesamte Bourgeoisie erobert haben und ihren Einfluss bis tief in die Arbeiterklasse hinein ausüben.22

Lenin nahm den Artikel mit Begeisterung zur Kenntnis, nicht wegen Pannekoeks Imperialismus-Konzept, sondern weil er den Tod der Zweiten Internationale und die Notwendigkeit einer neuen, einer Dritten Internationale hervorhob. Lenin schrieb am 27.10.1914 an Schljapnikow über den Artikel von Pannekoek:

Der einzige der den Arbeitern die Wahrheit gesagt hat – wenn auch nicht in voller Lautstärke und manchmal nicht ganz geschickt -, das ist Pannekoek, dessen Artikel wir Ihnen zugeleitet haben (schicken Sie bitte die Übersetzung an die Russen). Seine Worte dass es „keine Bedeutung mehr hat“, wenn jetzt die „Führer“ der von den Opportunisten und von Kautsky zu Tode beförderten Internationale zusammenkommen und den Bruch zu „leimen suchen – diese Worte sind die e i n z i g e n sozialistische Worte. Das ist die Wahrheit. Bitter aber die Wahrheit. Und die Arbeiter brauchen jetzt mehr denn je die Wahrheit, die ganze Wahrheit, und keine schmutzige Diplomatie, kein leichtfertiges „Zusammenleimen“, kein Übertünchen des Übels durch Kautschukresolutionen.23

Bemerkenswerterweise spricht Lenin in diesem Brief nur vom „Verrat“ Kautskys, und Troelstras24 und ihrem Übergang zur „Vaterlandsverteidigung“. Pannekoek hingegen erörtert in seinem Artikel die Ursachen für diesen „Verrat“ der Führer, die Überalterung der parlamentarischen und gewerkschaftlichen Taktik, die neue Taktik der Massenbewegungen, die Notwendigkeit, dass die Massen selbst handeln:

Die Periode, die jetzt in der Arbeiterbewegung beginnt, wird die Periode der Massen und ihrer Aktionen sein. Dieser Kampf muss aus der neuen kapitalistischen Welt hervorgehen, die aus dem Krieg hervorgehen wird, mit ihrer gewalttätigeren Entwicklung, ihren schärferen Klassenunterschieden, ihrem stärkeren Druck auf die Massen. Vielleicht wird die Bourgeoisie anfangs noch hochmütig triumphieren, das Proletariat ohnmächtiger, der Sozialismus schwächer erscheinen als bisher, wie damals nach 1871, als die damals neue Methode hier und da aus kleinen Anfängen wachsen musste; vielleicht wird auch der neue Kampf bald, spontan und halb unbewusst, aus dem Elend des Krieges entstehen. Aber sicherlich wird das Proletariat seinen Kampf neu, anders, energischer, mit neuerer Wissenschaft und Erkenntnis beginnen und den Kapitalismus in gigantischen Bewegungen untergraben. Dann wird eine neue Internationale entstehen, die solider, tiefer, mächtiger und sozialistischer ist als diejenige, die jetzt zusammengebrochen ist. In den Ruinen, hoch über den Flammen des schrecklichen Weltbrandes, erheben wir, die revolutionären Sozialdemokraten, das Banner des neuen, kommenden Internationalismus.25

Dieser Unterschied zwischen Lenin und Pannekoek sollte 1920 im Kampf der KAPD für Massenaktionen gegen die „Führertaktik“ zum Ausdruck kommen, die die Bolschewiki den angeschlossenen kommunistischen Parteien anderer Länder über die Dritte Internationale aufzwangen. Diese Führertaktik basierte auf der Fortführung der alten sozialdemokratischen Kampfmittel, aber unter anderer, bolschewistischer Führung.

In der englischen Fassung desselben Artikels, The Collapse of the International, den Pannekoek in der New Yorker Zeitschrift The New Review veröffentlichte, findet sich im selben Teil III eine etwas andere Version seiner Beschreibung des Imperialismus. Imperialismus bedeutet hier die Politik und die Theorien, die den Geist und den Charakter des modernen Kapitalismus ausmachen. Dann folgt, wie in der niederländischen Version, eine Beschreibung dessen, was wir auch Kolonialismus nennen, dessen Entwicklung zu folgender Situation führt:

Jede Regierung ist bestrebt, möglichst viel von der Erde für ihre Bourgeoisie zu erobern oder zu kontrollieren, damit sie dort die Interessen ihres Kapitals schützen kann. Jede Regierung strebt daher nach der größtmöglichen Weltmacht und wappnet sich gegen die anderen, um ihren Forderungen das größtmögliche Gewicht zu verleihen und die anderen zur Anerkennung ihrer Ansprüche zu zwingen. So strebt jede europäische Nation danach, das Zentrum eines Weltreichs zu werden, das aus Kolonien und Einflusssphären besteht. Diese Politik des „Imperialismus“ beherrscht heute mehr oder weniger das politische Leben aller Nationen und die geistige Haltung der Bourgeoisie.26

Pannekoek versäumt es, zu erklären, dass die europäischen Nationen in ihrem getrennten Streben nach einem Kolonialreich schließlich 1914 in Europa selbst einen zwischenimperialistischen Krieg gegeneinander führten. Lenin wird der Behauptung zugestimmt haben, dass der Imperialismus eine Politik des Großkapitals und der europäischen Nationen ist. Pannekoek geht nicht auf die Frage ein, die sich Lenin selbst stellte, ob bestimmte Nationen der imperialistischen Politik entkommen können. Es war Herman Gorter, der diesen wichtigen Punkt näher beleuchtete.

Herman Gorter und der Imperialismus

Im ersten Kapitel seiner 1914 in den Niederlanden erschienenen Broschüre Der Imperialismus, der Weltkrieg und die Sozialdemokratie skizziert Gorter, wie sich der Imperialismus aus dem Kolonialismus entwickelt.

Die gewaltige Zunahme des Kapitals, die ihrerseits von dem Anwachsen der Produktionskräfte im neunzehnten Jahrhundert hervorgebracht wurde, hat den Imperialismus geboren: das Streben aller kräftigen Staaten nach Eroberung neuen Gebietes, zumal in Asien und Afrika.

Gleichwie auf ökonomischem Gebiete die freie Konkurrenz dem Monopol des Syndikats und des Kartells hat weichen müssen, so erstrebt auf politischem Gebiete jeder mächtige kapitalistische Staat das Monopol des Bodenbesitzes und der Ausbeutung fremder Länder. [3]

Das erste Aufwachen des neuen Imperialismus, seine erste Tat, war die Besetzung Ägyptens von Seiten Englands. Dann kam der Krieg Japans gegen China, Japan erobert Korea, der Krieg Amerikas gegen Spanien, Amerika nimmt Kuba und die Philippinen, der Krieg der Engländer gegen die Buren, die Expeditionen der europäischen Staaten gegen China, der Krieg Japans gegen Russland.

Indessen war die Welt verteilt worden. Kaum blieb irgend noch lediges Land übrig, sogar in Afrika nicht.
Da brachen, eine nach der andern, die Krisen aus. Die Mächte begehrten einander ihres Besitzes.
27

Gorter weist darauf hin, dass alle großen Staaten, die an der Eroberung und Kontrolle der Kolonien und der Meere beteiligt waren, Allianzen miteinander eingingen, die sich im Weltkrieg gegenseitig bekämpften. Das bedeute, dass es unsinnig ist, von einem Abwehrkrieg zu sprechen, wie es alle bürgerlichen und sozialdemokratischen Parteien und Zeitschriften tun, um ihre eigene Beteiligung am Krieg schöner aussehen zu lassen, als sie ist (Neuausgabe, S. 5).

Lenin erhielt in der Schweiz kurz nach der Veröffentlichung von Der Imperialismus … ein Exemplar, das er mit Hilfe eines deutsch-niederländischen Wörterbuchs zu verstehen versuchte. Nach eigenen Angaben war ihm dies zu 30-40 % gelungen. Im Mai 1915 schrieb Lenin:

Tausendmal Recht hat der Marxist Gorter, wenn er in seiner in Holland erschienenen Broschüre „Der Imperialismus, der Weltkrieg und die Sozialdemokratie“ (S. 84) die Radikalen vom Schlage Kautskys mit den Liberalen des Jahres 1848 vergleicht, die in Worten tapfer, in ihren Taten aber Verräter waren.28

Wie bei Pannekoeks Artikel Der Zusammenbruch der Internationale ist Lenins Enthusiasmus hauptsächlich auf Pannekoeks und Gorters Verurteilung des „Verrats“ von Kautsky und ähnlichen Führern zurückzuführen. Eine Verurteilung, der die Broschüre von Gorter viele Seiten widmet, ebenso wie der revolutionären Massenaktion, die Gorter der Führer-Politik entgegensetzt:

Die revolutionäre Massenaktion „bedeutet, dass die Masse endlich aufwacht. Es bedeutet, dass sie ohne Führer, oder doch ohne dass deren Mitwirkung viel bedeutet, sich anschickt zu handeln. Es bedeutet, dass wir einen Schritt vorwärts tun, so groß, wie die Arbeiterklasse niemals noch tat.
Es bedeutet, dass wir unserem Endziel sehr nahe sind.
Es gibt keinen anderen Weg für das Proletariat zum Sozialismus.
Die Masse muss jetzt anfangen, selbst zu handeln, die Masse muss kommen.
Die Entwicklung des Kapitalismus zum Trust, zur Großbank, zum imperialistischen Parlament und zur imperialistischen Regierung will es. Es kann nicht anders.
Und die Masse ist auch schon gekommen in den letzten Jahrzehnten, seit der Imperialismus kam.
Trotz alles Schönredens und aller Versprechungen und aller Verträge mit der Bourgeoisie, trotz alles Betruges der Arbeiter, trotz aller Anstrengungen seitens der Gewerkschaftsbeamten und Abgeordneten, die Arbeit allein von oben herab zu tun, hat die Masse die Aufgabe selbst in die Hände genommen.
In Schweden, in Norwegen, in Dänemark, in England, in Holland, in Frankreich und Belgien, in Italien und Spanien, in Österreich und in Russland hat das Proletariat selbst, mittels General- und Massenstreiks, mittels Protest- und Demonstrations- und Zwangsstreiks, mittels ökonomischer und politischer Streiks, mittels Streiks von ganzen Arbeiterbevölkerungen oder ihrer Gruppen, gezeigt, dass es die neue Entwicklung gefühlt hat. 29

Erst 1916 kritisierte Lenin in einer Fußnote zu dem Artikel Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen Gorter dafür, dass er in seiner „prächtigen“ Imperialismus-Broschüre das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Nationen ablehnte:

In einigen Kleinstaaten, die am Kriege 1914-1916 nicht beteiligt sind, wie zum Beispiel Holland und die Schweiz, nutzt die Bourgeoisie energisch die Losung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen aus, um die Teilnahme an dem jetzigen imperialistischen Kriege zu rechtfertigen. Das ist einer der Beweggründe, die der Sozialdemokratie solcher Länder zur Ablehnung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen Anstoß gaben. Die richtige proletarische Politik, nämlich die Ablehnung der „Vaterlandsverteidigung“ im imperialistischen Kriege, rechtfertigen sie mit Hilfe unrichtiger Argumente. Man erhält in der Theorie eine Verstümmelung des Marxismus und in der Praxis eine Art kleinstaatlicher Beschränktheit, die Ignorierung von Hunderten von Millionen einer Bevölkerung, die von großstaatlichen Nationen unterjocht sind. Genosse Gorter hat unrecht, wenn er in seiner prächtigen Broschüre Der Imperialismus, der Weltkrieg und die Sozialdemokratie das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts ablehnt. Aber praktisch wendet er ganz richtig eben dieses Prinzip an, wenn er die sofortige „politische und nationale Unabhängigkeit“ Niederländisch-Indiens fordert und die holländischen Opportunisten dafür geißelt, dass sie auf die Aufstellung dieser Forderung und auf den Kampf für dieselbe verzichten.30

Es sei darauf hingewiesen, dass Gorter mit seiner Forderung nach der Unabhängigkeit Hollands nicht das Proletariat von Niederländisch-Ostindien aufforderte, seine „eigene“ nationale Bourgeoisie zu unterstützen. Die spätere Geschichte hat auch gezeigt, dass Sukarno als Führer der nationalen Selbstbestimmung Indonesiens im Zweiten Weltkrieg eine imperialistische Politik verfolgte, indem er sich auf die Seite Japans stellte, das während seiner Besetzung Indonesiens die Ausbeutung und Unterdrückung der indonesischen Proletarier und armen Bauern verschärfte.

In demselben Artikel unterscheidet Lenin in Theorem 6 drei Arten von Ländern in Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht der Nationen:

  1. Die wichtigsten kapitalistischen Länder in Westeuropa und die Vereinigten Staaten von Amerika. Hier wurden die bürgerlichen, fortschrittlichen nationalen Bewegungen schon vor langer Zeit abgeschafft.
  2. Osteuropa: Österreich, die Balkanländer und insbesondere Russland. Hier hat vor allem das 20. Jahrhundert bürgerlich-demokratische Nationalbewegungen entwickelt und den nationalen Kampf intensiviert.
  3. Die halbkolonialen Länder wie China, Persien, die Türkei und alle Kolonien mit einer Gesamtbevölkerung von etwa einer Milliarde Menschen. Hier sind die bürgerlich-demokratischen Bewegungen teils kaum begonnen, teils noch lange nicht abgeschlossen.

Diese Unterscheidung spielt jedoch für Lenins Haltung im Ersten Weltkrieg keine Rolle; Lenin will sich lediglich eine theoretische Möglichkeit offen halten, die laut Gorter durch die Entwicklung des Imperialismus überholt wurde. Das soll nicht heißen, dass Gorter das Vorhandensein von nationalen Bewegungen in Osteuropa leugnet, noch dass nationale Befreiungsbewegungen in den halb- oder vollständig kolonialen Ländern entstehen könnten. Gorter behauptet auch nicht, dass in allen Ländern die Ziele der bürgerlichen Revolution erreicht worden sind. Der Punkt ist, wie wir bereits in Lenins Kritik an Junius/Luxemburg gesehen haben: dass die Welt unter einer Handvoll „großer“ imperialistischer Mächte aufgeteilt ist und dass daher jeder Krieg, auch wenn er als nationaler Krieg beginnt, in einen imperialistischen Krieg umgewandelt wird und die Interessen einer der imperialistischen Mächte oder Koalitionen betrifft.

Mit den Worten von Gorter:

(…) der Imperialismus hoch – das Streben mächtiger Staaten nach Gebietserweiterung. Der Imperialismus, der, scheinbar mit nationaler Tendenz, scheinbar im Kampfe nur mit dem Proletariat seiner Nation, in Wahrheit aber dadurch, dass alle Staaten imperialistisch sind, alle sich bekriegen und alle um die Weltmacht kämpfen, als ein Ganzes den Kampf führt gegen das gesamte Proletariat der Welt.
Und als Antwort darauf, auf diese erste gemeinsame Aktion des Weltkapitals gegen das Weltproletariat, muss jetzt die erste internationale Aktion des Proletariats einsetzen.
31 (Fettdruck von F.C.)

Lenin wollte sich die Möglichkeit der nationalen Selbstbestimmung offen halten, um den russischen Zarismus zu schwächen, der sein Reich wie ein Völkergefängnis regierte. Darüber hinaus betrachteten Lenin und Trotzki die Revolution in Russland als eine bürgerliche Revolution, die vom Proletariat oder vielmehr von der Partei des Proletariats durchgeführt wurde. Sie leiteten diese Idee aus Aussagen von Marx über die Revolution von 1848 in Deutschland ab, zum Beispiel im Kommunistischen Manifest.33

In der Zwischenzeit sind mehr als 100 Jahre vergangen. Auf den Ersten Weltkrieg folgte – wie von Pannekoek und Gorter vorausgesagt – ein Zweiter Weltkrieg. Dann kam der Kalte Krieg und die Stellvertreterkriege, die die Großmächte seither über andere Länder und nationale Befreiungsbewegungen miteinander führen. Jeder so genannte „nationale“ Krieg, jeder nationale Befreiungskrieg, hat sich als zwischenimperialistischer Krieg entpuppt, den die Großmächte über kleinere Staaten und Bewegungen, die Staaten werden wollen, miteinander führen. Letztere beginnen schon vor dem offenen Kampf, um ihr „Volk“, insbesondere die Arbeiterklasse, dem nationalen Kapital unterzuordnen, von der Besteuerung bis zur Militarisierung und dem Tod. Nicht nur während des Kampfes, sondern schon im Vorfeld sichern sie sich die finanzielle und militärische Unterstützung größerer Staaten im Gegenzug dafür, dass sie deren unmittelbare und zukünftige Interessen bedienen. Auch das ist imperialistische Politik, der Imperialismus der „unterdrückten Nationen“, die Anpassung an die Aufteilung der Welt in kapitalistische Einflusssphären und das Bestreben, die eigenen kapitalistischen Interessen in jedem Konflikt durchzusetzen. Imperialismus ist die Politik aller Staaten und aller im Entstehen begriffenen Staaten, nicht nur die bestimmter dominanter Staaten. Es sind vor allem die Trotzkisten, Stalinisten und Maoisten, die trotz jahrhundertelanger Erfahrung mit dem arbeiterfeindlichen Charakter der „unterdrückten Nationen“ an Lenins zahlreichen Unterscheidungen zwischen unterdrückenden Ländern und unterdrückten Nationen, imperialistischen und nichtimperialistischen Ländern festhalten.

Aber auch diejenigen, die ihre Theorie nicht auf diesen linksbürgerlichen „Leninismus“ stützen oder sich sogar ausdrücklich als Anti-Leninisten bezeichnen und gleichzeitig auf der Grundlage dessen arbeiten wollen, was die Arbeiter oder das (einfache) Volk zu einem bestimmten Zeitpunkt denken und tun, müssen sich im Hinblick auf den aktuellen Krieg in der Ukraine verbiegen, um zu bestimmen, welches Land der Aggressor ist und welches sich verteidigt, welches Volk ein Recht auf Selbstbestimmung hat und welches nicht, und was dieses Selbstbestimmungsrecht bedeutet, was die diplomatische, finanzielle, militärische Unterstützung durch nicht direkt am Krieg beteiligte Länder bedeutet, vor allem die Politik des „eigenen“ Landes, was Annexion bedeutet, was Neutralität bedeutet, sogar was Frieden bedeutet. Diese Personen und Gruppen sind auch für alle Arten von „konkreten“ und subtilen Analysen der Unterschiede zwischen den Ländern zugänglich. Sie mögen eine internationalistische Position, die sich auf die von Luxemburg, Pannekoek und Gorter im Ersten Weltkrieg vertretenen Positionen stützt, für „vereinfachend“ halten. Dies gilt insbesondere für arbeiteristische Gruppen in Deutschland, dem Land des „anschauenden“ Materialismus und der „kritischen Kritik“. Der Kürze halber verweise ich diejenigen, die diesen Einwand der Vereinfachung erheben, auf die ebenfalls sehr konkreten und subtilen Analysen, die Gorter in seine Broschüre über die imperialistische Politik verschiedener Länder im Ersten Weltkrieg vorgenommen hat. Ich möchte den Leser nicht mit einer Wiedergabe dieser Informationen überfordern.

Lenin und der Imperialismus als höchstes Stadium

Für Lenin fehlte den Bolschewiki eine Theorie des Imperialismus, die zwei verschiedenen Zwecken dienen konnte:

  1. Eine Absage an die Vaterlandsverteidigung im Ersten Weltkrieg
  2. Die Nutzung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen speziell zur Schwächung des Zarismus, allgemein zur Schwächung der Großmächte.

Zu diesem Zweck schrieb Lenin im Frühjahr 1916 in der Schweiz Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriß. In Buchform wurde sie erst Mitte 1917 in Petersburg veröffentlicht. Beim Verfassen in 1916 nahm Lenin Rücksicht auf die zaristische Zensur, so dass in diesem Text keine klaren Aussagen zum Weltkrieg zu finden sind. Er stützt sich dabei hauptsächlich auf Aussagen bürgerlicher Theoretiker über die Tendenz zur Bildung von Kartellen und Monopolen. Lenin versucht gelegentlich vergeblich, den absoluten Gegensatz zwischen einer Periode des freiheitsliebenden Privatkapitalismus und einer nachfolgenden Phase des herrschenden und parasitären Monopolkapitalismus zu relativieren. Das hindert ihn aber nicht daran, einen „dialektischen“ Zaubertrick zu vollführen, mit dem Lenin – übrigens völlig unbewusst – ein drittes, zukünftiges Ziel des Bolschewismus trifft:

  1. Staatsmonopolistischer Kapitalismus als Grundlage des „Sozialismus“, und zwar ein von der Partei geführter Staatskapitalismus.

In Kapitel VII findet sich als Zusammenfassung des Vorangegangenen die folgende Formulierung, die diesem dritten Ziel dient:

Der Imperialismus erwuchs als Weiterentwicklung und direkte Fortsetzung der Grundeigenschaften des Kapitalismus überhaupt. Zum kapitalistischen Imperialismus aber wurde der Kapitalismus erst auf einer bestimmten, sehr hohen Entwicklungsstufe, als einige seiner Grundeigenschaften in ihr Gegenteil umzuschlagen begannen, als sich auf der ganzen Linie die Züge einer Übergangsperiode vom Kapitalismus zu einer höheren ökonomischen Gesellschaftsformation herausbildeten und sichtbar wurden. Ökonomisch ist das Grundlegende in diesem Prozess die Ablösung der kapitalistischen freien Konkurrenz durch die kapitalistischen Monopole.34

Wie Jan Appel später in seiner Kritik an Lenins Staat und Revolution zeigte, entlehnte Lenin seine staatskapitalistischen Ansichten dem Reformismus der deutschen Sozialdemokratie, insbesondere der Theorie Hilferdings.35 In Der Imperialismus als höchstes Stadium zitiert Lenin wiederholt Hilferding.

In Kapitel VII versucht Lenin dann, eine „Definition des Imperialismus geben, die folgende fünf seiner grundlegenden Merkmale enthalten würde:

1. Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, daß sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen;

2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses „Finanzkapitals“;

3. der Kapitalexport, zum Unterschied vom Warenexport, gewinnt besonders wichtige Bedeutung;

4. es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen, und

5. die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet.

Der Imperialismus ist der Kapitalismus auf jener Entwicklungsstufe, wo die Herrschaft der Monopole und des Finanzkapitals sich herausgebildet, der Kapitalexport hervorragende Bedeutung gewonnen, die Aufteilung der Welt durch die internationalen Trusts begonnen hat und die Aufteilung des gesamten Territoriums der Erde durch die größten kapitalistischen Länder abgeschlossen ist.“ 36

Man beachte, dass Lenin in Punkt 5 sagt, dass die territoriale Aufteilung der Welt abgeschlossen ist. Zuvor hatte er eingeräumt, dass dies das entscheidende Argument für Luxemburgs These sei: „Nationale Kriege kann es nicht mehr geben„.37

Gleichzeitig weist Lenin darauf hin, dass es sich um eine ökonomische Definition handelt, die er später durch eine historische Definition ergänzen wird.38 Dies geschieht in Kapitel VIII, wo Lenin erklärt:

Einer der Mängel des Marxisten Hilferding ist, daß er hier im Vergleich zu dem Nichtmarxisten Hobson einen Schritt rückwärts getan hat. Wir sprechen von dem Parasitismus, der dem Imperialismus eigen ist. (…)
Der Begriff „Rentnerstaat“ oder Wucherstaat wird daher in der ökonomischen Literatur über den Imperialismus allgemein gebräuchlich. Die Welt ist in ein Häuflein Wucherstaaten und in eine ungeheure Mehrheit von Schuldnerstaaten gespalten
.39

Während Hilferding die Funktion des Finanzkapitals im Kapitalismus seiner Zeit beschrieb, fügte Lenin die negative Bewertung von Hobson hinzu. Die Tatsache, dass er den Monopolkapitalismus in seine „schmutzig jüdische Erscheinungsform“ beschreibt – was Marx Feuerbach vorwarf40 -, stört Lenin nicht im Geringsten. Schließlich kam diese Art der Qualifikation im weitgehend antisemitischen Russland gut an. In der Verwendung von Begriffen wie „Wucher“ und „parasitär“ wird deutlich, dass Lenin der „großen Mehrheit der Schuldnerstaaten“ entgegenkommen will, wie er in Kapitel IX in Formulierungen ausführt, die die zaristische Zensur passieren würden. In Kapitel X wird sie zusammengefasst:

Monopole, Oligarchie, das Streben nach Herrschaft statt nach Freiheit, die Ausbeutung einer immer größeren Anzahl kleiner oder schwacher Nationen durch ganz wenige reiche oder mächtige Nationen – all das erzeugte jene Merkmale des Imperialismus, die uns veranlassen, ihn als parasitären oder in Fäulnis begriffenen Kapitalismus zu kennzeichnen. Immer plastischer tritt als eine Tendenz des Imperialismus die Bildung des „Rentnerstaates“, des Wucherstaates hervor… 41

In Kapitel X schließlich kann Lenin seine visionäre Sicht des Platzes des Imperialismus in der Geschichte, des sterbenden Kapitalismus, auch der staatskapitalistischen Entwicklung der Sowjetunion, offenbaren:

Wir haben gesehen, dass der Imperialismus seinem ökonomischen Wesen nach Monopolkapitalismus ist. Schon dadurch ist der historische Platz des Imperialismus bestimmt, denn das Monopol, das auf dem Boden der freien Konkurrenz und eben aus der freien Konkurrenz erwächst, bedeutet den Übergang von der kapitalistischen zu einer höheren ökonomischen Gesellschaftsformation. (…)
Aus allem, was über das ökonomische Wesen des Imperialismus gesagt wurde, geht hervor, dass er charakterisiert werden muss als Übergangskapitalismus oder, richtiger, als sterbender Kapitalismus. Höchst aufschlussreich ist in dieser Hinsicht, dass die Schlagworte der bürgerlichen Ökonomen, die den jüngsten Kapitalismus beschreiben, „Verflechtung“, „Fehlen der Isoliertheit“ usw. heißen; die Banken seien
„Unternehmungen, die nach ihren Aufgaben und nach ihrer Entwicklung nicht einen rein privatwirtschaftlichen Charakter haben und die immer mehr aus der Sphäre der rein privatrechtlichen Regelung herauswachsen“. Und derselbe Riesser, von dem diese Worte stammen, erklärt mit todernster Miene, dass sich die „Voraussage“ der Marxisten über die „Vergesellschaftung“ „nicht verwirklicht“ habe! (…)
Wenn aus einem Großbetrieb ein Mammutbetrieb wird, der planmäßig, auf Grund genau errechneter Massendaten, die Lieferung des ursprünglichen Rohmaterials im Umfang von zwei Dritteln oder drei Vierteln des gesamten Bedarfs für Dutzende von Millionen der Bevölkerung organisiert; wenn die Beförderung dieses Rohstoffs nach den geeignetsten Produktionsstätten, die mitunter Hunderte und Tausende Meilen voneinander entfernt sind, systematisch organisiert wird; wenn von einer Zentralstelle aus alle aufeinanderfolgenden Stadien der Verarbeitung des Materials bis zur Herstellung der verschiedenartigsten Fertigprodukte geregelt werden; wenn die Verteilung dieser Produkte auf Dutzende und Hunderte von Millionen Konsumenten nach einem einzigen Plan geschieht (Petroleumabsatz in Amerika wie in Deutschland durch den amerikanischen Petroleumtrust) – dann wird es offensichtlich, dass wir es mit einer Vergesellschaftung der Produktion zu tun haben und durchaus nicht mit einer bloßen „Verflechtung“; dass privatwirtschaftliche und Privateigentumsverhältnisse eine Hülle darstellen, die dem Inhalt bereits nicht mehr entspricht und die daher unvermeidlich in Fäulnis übergehen muss, wenn ihre Beseitigung künstlich verzögert wird, eine Hülle, die sich zwar verhältnismäßig lange in diesem Fäulniszustand halten kann (wenn schlimmstenfalls die Gesundung von dem opportunistischen Geschwür auf sich warten lassen sollte), die aber dennoch unvermeidlich beseitigt werden wird.42

Lenin präsentiert hier eine Theorie des Imperialismus, die trotz der von ihm zugegebenen Aufteilung der Welt in kapitalistische Einflusssphären eine völlig willkürliche Unterscheidung zwischen den „eigentlichen“ imperialistischen Ländern und den von ihnen unterdrückten Ländern zulässt. Wie zu seiner Zeit üblich, verbindet Lenin den Imperialismus mit einer angenommenen Periode des Niedergangs oder des Übergangs des Kapitalismus. Wenn man die Produktion und die Verteilung als bereits in den Kartellen und Monopolen (und insbesondere in der deutschen Kriegswirtschaft, die Lenin aus Gründen der Zensur nicht erwähnte ) vergesellschaftet betrachtet, reicht eine begrenzte Vergesellschaftung, indem das Privateigentum an den Produktionsmitteln durch Staatseigentum ersetzt wird, aus, um einen vermeintlichen Sozialismus zu beginnen:

Der Sozialismus ist nichts anderes als staatskapitalistisches Monopol, das zum Nutzen des ganzen Volkes angewandt wird und dadurch aufgehört hat, kapitalistisches Monopol zu sein.43

Die Innen- und Außenpolitik der Sowjetunion und der „unterdrückten Nationen“

In ihrer posthum veröffentlichten Schrift Die russische Revolution wies Luxemburg auf die katastrophalen Folgen des Rechts auf Abspaltung der unter dem Zarismus unterdrückten Nationen hin. Anstatt sich wie Lenin und Co. erwarteten, als treue Verbündete der Revolution in Russland zu verhalten, verbündeten diese Nationen sich als Todfeind dieser Revolution mit dem deutschen Imperialismus. Die Selbstbestimmung der Nationen lieferte u. a. die Arbeiter Polens und der Ukraine an ihre eigene Bourgeoisie aus.44 Dann versuchten die Bolschewiki, Polen durch eine militärische Aktion der Roten Armee für „ihr“ Russland zurückzugewinnen. Das ist fehlgeschlagen. Im Falle der Ukraine ist dies gelungen. Ab dem 7. November 1917 band Stalin als Volkskommissar für Nationalitäten mit Zustimmung von Lenin und Trotzki viele unabhängige „Nationen“ gewaltsam an Russland.

Die konterrevolutionäre Einkreisung des revolutionären Russlands mit einem Ring von Kleinstaaten, die von der extremen Rechten regiert werden, war das erste Ergebnis des Völkerrechts. Um nur ein Beispiel zu nennen: Das national unabhängige Polen wurde von Józef Piłsudski regiert, einem ehemaligen Parteigenossen Luxemburgs, der gegen sie für die nationale Abhängigkeit Polens eintrat.

Als die Bolschewiki um 1920 begriffen, dass die Sowjetunion nicht durch eine proletarische Revolution in Deutschland aus ihrer Isolation herausgeführt werden konnte, begannen sie, die Zusammenarbeit mit den deutschen Generälen zu suchen. Karl Radek hatte während des Arbeiteraufstandes im Ruhrgebiet gegen den Kapp-Putsch begonnen, vom deutschen Gefängnis aus Kontakte zu knüpfen. Vermutlich mit Moskaus Zustimmung schloss sich die KPD dem Bielefelder Abkommen an, das die Rote Armee entwaffnete, die die Arbeiter im Ruhrgebiet gebildet hatten. Tausende von revolutionären Arbeitern wurden in der Folge von der Reichswehr und den Freikorps, aus denen später der Nationalsozialismus hervorgehen sollte, massakriert.

Von nun an wendeten die Bolschewiki das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Unterscheidung zwischen imperialistischen und unterdrückten Völkern willkürlich auf jeden Aspekt der russischen Außenpolitik an. Ihre anfängliche Ablehnung des Hamburger „Nationalbolschewismus“, der für eine Zusammenarbeit mit den deutschen Generälen und der Sowjetunion bei der Verteidigung Deutschlands gegen Frankreich und England eintrat, wich dessen Zustimmung. Plötzlich entdeckte die Komintern, dass der Vertrag von Versailles Deutschland zu einer Schuldnernation gemacht hatte, die vom Imperialismus Frankreichs und Englands unterdrückt wurde. Die KAPD und die GIK haben diesen Verrat am proletarischen Internationalismus durch die Komintern und die ihr angeschlossenen kommunistischen Parteien ausführlich dokumentiert. Eine Zusammenfassung für den Fall Deutschlands bis zum Hitler-Stalin-Pakt im Zweiten Weltkrieg findet sich in Russland und die große Niederlage der deutschen Arbeiterklasse im Jahr 1933.45

Die Neuausrichtung der russischen Außenpolitik auf den Osten seit 1923 ist in Die Entwicklung der sowjetischen Außenpolitik nachzulesen.46 Diese Politik hatte katastrophale Folgen für die Kommunisten und revolutionären Arbeiter Chinas, die 1927 von der bürgerlichen Kwo-Min-Tang, die Moskau ihnen als Verbündeten aufgezwungen hatte, massakriert wurden. Siehe in dem oben genannten Text, Teil 2, die Kapitel Auf dem Weg nach Osten und Das Massaker der chinesischen Arbeiterrevolution.

Ende der 1930er Jahre stand die GIK vor der Frage, welche Haltung sie gegenüber dem herannahenden Zweiten Weltkrieg einnehmen sollte: Sollten die europäischen Arbeiter Russland verteidigen? 47 Die Beantwortung dieser Frage konfrontierte die GIK mit ihrer eigenen (meiner Ansicht nach falschen)48 Auffassung, dass die Revolution in Russland eine bürgerliche Revolution war, ähnlich der Französischen Revolution von 1792, wenn auch mit einigen Unterschieden. In auffallender Übereinstimmung mit Lenins Ansicht in Der Imperialismus als höchstes Stadium, argumentierte die GIK, dass Russland …

von der zaristischen Regierung als Agent des westeuropäischen Kapitals stark ausgebeutet wurde. Die russische Revolution war zugleich ein Abwerfen der Schuldenlast dieses Kapitals. Lenin und die Bolschewiki kannten das Großkapital vor allem als fremde Völker ausbeutendes Kolonialkapital; deshalb galt ihre Sympathie all den anderen, ebenfalls ausgeplünderten Völkern Asiens, und sie riefen sie – Persien, China, Indien – zum Kampf gegen das unterdrückerische, vor allem britische Kapital auf. So wurde Russland zur Avantgarde eines weltweiten Kampfes der kolonialen oder halbkolonialen Völker Asiens gegen das europäische Kolonialkapital. Der Kampf der westeuropäischen und amerikanischen Arbeiter für den Kommunismus wurde mit diesem Kampf identifiziert.49

Gegen diese Identifizierung der Kämpfe der Arbeiter im Westen mit denen der Arbeiter und ausgeplünderten Völker im Osten wies die GIK auf die Unterschiede in Charakter und Zielsetzung hin:

  • Zerstörung des Kapitalismus und Beseitigung jeglicher Ausbeutung im Gegensatz zur Vertreibung des ausländischen Kapitalismus, um selbst zum Ausbeuter zu werden und die Früchte der Ausbeutung zu ernten.
  • Der Vervollkommnung des hohen Standes der Produktionstechnik in den am weitesten entwickelten Ländern durch eine Selbstorganisation der produzierenden Bevölkerung steht ein erster Start mit der neuen Technik in der armen primitiven Produktion in befreiten Kolonialländern gegenüber.
  • Der Sieg der Arbeiter bedeutet eine Verschmelzung der Produktion und der produzierenden Völker zu einer internationalen Welteinheit. Siege der asiatischen Völker in ihrem Kampf gegen das Weltkapital bedeuten Siege des Nationalismus, Gründung neuer Nationalstaaten.

Aus diesen Unterschieden zog der GIK die folgendes Fazit:

Die Arbeiter brauchen ihre ganze Kraft für ihre eigene Aufgabe, ihre eigene Befreiung, und damit werden sie letztlich der Befreiung der ganzen Welt den größten Dienst erweisen. Viel mehr, als wenn sie versuchen würden, neue Klassen von Ausbeutern im Osten aufzubauen oder zu unterstützen.50

Die GIK lehnte es ab, während des Zweiten Weltkriegs Partei für Russland oder ein anderes Lager zu ergreifen. Dies war einer der Hauptgründe, warum sich viele ehemalige Mitglieder der GIK, die nach dem deutschen Einmarsch 1940 aufgelöst wurde, der ebenfalls proletarisch-internationalistischen Marx-Lenin-Luxemburg-Front anschlossen.

Schlussfolgerung

Lenin konnte im Ersten Weltkrieg eine proletarisch-internationalistische Position einnehmen, indem er zunächst gegenüber Luxemburg anerkannte, dass alle an diesem Krieg teilnehmenden und neutralen Länder motiviert waren, ihren Anteil an einer bereits kapitalistisch geteilten Welt zu sichern. Dabei machte er den Vorbehalt, dass aber in anderen Situationen das Selbstbestimmungsrecht der Nationen weiterhin gelten könne. Im Imperialismus das höchste Stadium, gelingt es Lenin 1916, das Selbstbestimmungsrecht mit einer vulgarisierenden Erklärung der Rolle des Finanzkapitals zu retten. Es heißt, die Welt sei in imperialistische und nichtimperialistische Länder unterteilt. Gleichzeitig gelingt es ihm, den Kapitalismus als im Niedergang begriffen und den staatlichen Monopolkapitalismus als Vergesellschaftung der Produktionsmittel darzustellen, die nur noch einer bolschewistischen Regierung bedürfen, um als sozialistisch zu gelten.

Im Gegensatz dazu vertraten die KAPD und die GIK und ihre Theoretiker Gorter und Pannekoek, jeder mit seinen eigenen Schwächen, die Auffassung, dass der Erste Weltkrieg der Wendepunkt zum Imperialismus war, da alle Staaten – auch die in Gründung befindlichen – ihre eigene Arbeiterklasse im blutigen Kampf um die Neuaufteilung der Welt einsetzen. Imperialismus ist die Suche aller größeren und kleineren nationalen Kapitale nach einem Weg, sich den bestmöglichen Raum zu verschaffen, und zwar auf die einzige Art und Weise, die in einer kapitalistisch geteilten Welt möglich ist, nämlich durch das Eingehen wirtschaftlicher und militärischer Bündnisse mit anderen kleineren oder größeren nationalen Kapitale.

Lenins Imperialismustheorie kann verwendet werden – und ist verwendet worden -, um sowohl Russland als auch die Ukraine, sowohl die Ukraine als auch die abtrünnigen Donbass-Republiken, sowohl die USA als auch die NATO- und EU-Länder, sowohl China als auch Russland, kurz gesagt alle Länder als Opfer des Imperialismus oder selber als Imperialisten zu verteidigen.

Die Imperialismustheorie der deutsch-holländischen kommunistischen Linken, für die Gorter in seiner Brochüre von 1914 den Grundstein legte, ermöglicht es, den proletarischen Internationalismus seit dem Ersten Weltkrieg auf das Gemetzel anzuwenden, das jetzt täglich in der Ukraine stattfindet:

  • Der Krieg in der Ukraine ist das Ergebnis der Aufteilung der Welt in kapitalistische Einflusssphären.
  • Russland und die Ukraine sind direkt am Krieg beteiligt. Alle anderen Länder sind indirekt beteiligt. Die mächtigsten Länder im Hintergrund sind die Vereinigten Staaten und China, die sich als abnehmende und aufstrebende Weltwirtschaftsmacht für einen Dritten Weltkrieg rüsten. Alle Länder, auch die weniger mächtigen, versuchen, das Beste aus der kapitalistischen Umverteilung der Welt zu machen, die das Ergebnis dieses Krieges in der Ukraine und der zwischenimperialistischen Kriege ist, die folgen werden.
  • Die „Verteidigung des eigenen Volkes“, zu der sowohl Russland als auch die Ukraine aufrufen, ist lediglich die Parole, mit der sie die Arbeiter ihrer Länder dazu aufrufen, sich gegenseitig für die Interessen des Kapitals zu massakrieren.
  • Für die Arbeiterklasse aller Länder gilt: der Feind steht im eigenen Land, (Klassen-)Krieg dem (zwischenimperialistischen) Kriege, kein Klassenfrieden, sondern Fortsetzung des Arbeiterkampfes zur Revolution, auch wenn dies zur Niederlage des „eigenen“ Landes im Krieg führt (revolutionärer Defätismus), Umwandlung des imperialistischen Krieges in die proletarische Weltrevolution.

Amsterdam, 8-4-2022

Nachwort

Nach der Veröffentlichung des obigen Artikels erhielt ich einen Kommentar zu dem Fragment, in dem es heißt, dass es seit dem Ersten Weltkrieg keine „nationalen Kriege“ mehr gegeben hat. Dieses Fragment könnte als Leugnung der Realität der Bildung neuer Nationalstaaten missverstanden werden. Natürlich hat es seit 1914 neue Staaten gegeben. Der Punkt ist, dass diese Staaten in dem bestimmenden und unumkehrbaren Kontext des kapitalistischen Imperialismus entstanden sind. Keiner dieser neuen Staaten hat das repräsentiert, was in der Zeit vor 1914 geschah: In nationalen Kriegen wurden die Interessen des sich entwickelnden Kapitalismus gegen die vorkapitalistischen Verhältnisse der Vergangenheit abgewogen.
Ein nationaler Krieg ist ein Krieg für die Verteidigung einer Nation oder für ihre historische Entstehung. In der imperialistischen Periode hat ein nationaler Krieg seine nationalen Merkmale nicht verloren, aber sie werden durch den imperialistischen Charakter der kapitalistischen Weltherrschaft bestimmt.
Nach dem Ersten Weltkrieg, als Nationen in einem nationalen Krieg siegten (und selbst in Scharmützeln und Pakten, es waren nicht ausschließlich Kriege), siegte nicht der Kapitalismus über die vorkapitalistische Vergangenheit, sondern eine bürgerliche Seite gegen die andere, und zwar innerhalb des kapitalistischen Imperialismus.
Es mag verwirrend sein, zu behaupten, dass es nach dem Ersten Weltkrieg keine nationalen Kriege mehr gab. Der sozialgeschichtliche Charakter hat sich geändert, da der Imperialismus diesen Wandel unumkehrbar bestimmt hat.
Weil der Bolschewismus dies nicht begriff, verdammte er sich selbst zu der schändlichen Leninistischen Politik der Verteidigung irgendeiner nationalistischen Bourgeoisie, die er als fortschrittlich und nichtimperialistisch bezeichnete – antiimperialistisch war der Begriff, den sie prägten -, aber Rosa, Gorter und Pannekoek hatten Recht. Bordiga und Co. nicht, sie machten einige Schritte vorwärts, aber es dauerte lange, bis sie es klarer sahen und versuchten, eine Entschuldigung für Lenin und Co. zu finden.

F.C. 9-5-2022

Noten

1 Um den Leser nicht unnötig zu ermüden, wird auf die weitere Verwendung von Anführungszeichen weitgehend verzichtet.

2 Die Kommunistische Linke bestand aus der frühen Opposition innerhalb der kommunistischen Parteien und innerhalb der Kommunistischen Internationale, die bald von den außenpolitischen Interessen der bolschewistischen Regierung Russlands dominiert wurde. Die wichtigsten linken Flügel waren die italienischen, auch Bordigisten genannt, und die deutschen/niederländischen (KAPD, Gorter und Pannekoek). Letzterer vertrat eine Theorie des Imperialismus, die sich erheblich von der Lenins unterschied. Die Italienische Linke war mehr auf der Linie Lenins und blieb länger in der Komintern als die KAPD.

3 Es übersteigt meine Kenntnisse und mein Interesse, auf alle Einzelheiten – wenn nicht gar auf die Wendungen – von Lenins Ansichten einzugehen, wie es einige Genossen in Italien tun, die mit Zweifeln und sogar mit Klassenverrat innerhalb des Bordigismus konfrontiert sind. Siehe zum Beispiel: Circolo Internazionalista „coalizione operaia“. Für eine Widerlegung siehe: Aníbal, Critical evaluation of the text of the Circolo internazionalista „coalizione operaia“.

4 Karl Marx, Das Elend der Philosophie. Zweites Kapitel: Die Metaphysik der politischen Ökonomie.

5 Peter Nettl, Rosa Luxemburg (1965), Kapitel II, S. 113.

6 Mit Dank an Aníbal verweise ich als Beispiel auf Engels‘ Brief an Kautsky vom 7.2.1882, MEW, Bd. 35, S. 269.

7 Peter Nettl, Rosa Luxemburg (1965), Anhang 2, Die nationale Frage, S. 813/814.

8 MEW, Bd, 27, S. 266. Zitiert von Peter Nettl, Rosa Luxemburg (1965), Anhang 2, Die nationale Frage, S. 810. Dort mehrere Hinweise auf den strategischen Ansatz insbesondere von Engels.

9 Der Abschnitt über Rosa Luxemburgs Imperialismustheorie ist meinem Text von 2016 über die Fasen in de ontwikkeling van het kapitalisme entnommen. Auszüge, in denen ich die Theorie von der Dekadenz des Kapitalismus verteidigte, wurden gestrichen. Ich halte diese Auffassung inzwischen für unhaltbar und von Anfang an für falsch. Siehe: Capitalism is coming to an end. But how??

10 Karl Marx & Friedrich Engels, Das Kommunistische Manifest.

11 Karl Marx, Das Kapital, Band III, MEW Bd. 25, S. 839.

12 Luxemburg, R, Gesammelte Werke Band 5, Berlin 1975, S. 297.

13 Luxemburg, R. Gesammelte Werke Band 5, Berlin 1975, S. 364.

14 Luxemburg, R. Gesammelte Werke Band. 4, Berlin 1974, blz. 443.

15 Ebenda

16 Ebenda.

17 Programm der “Kommunistischen Arbeiter-Partei Deutschlands” (KAPD) Mai 1920.

18 Anton Pannekoek, Naturverwüstung (1909).

19 Anton Pannekoek, The economic necessity of imperialism. (1916). Siehe ausführlicher Pannekoeks Ablehnung mehrerer wirtschaftlicher Krisentheorien in: Pannekoek, Die Zusammenbruchtstheorie des Kapitalismus (1934).

20 Junius, Die Krise der Sozialdemokratie, Anhang, Leitsätze über die Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie.

21 Lenin, Über die „Junius“-Broschüre, (1916).

22 Anton Pannekoek, De ineenstorting van de Internationale (1914), S. 5. Die in deutscher Sprache erschienenen Fassung ist leider nicht auffindbar.

23 Lenin Werke Bd. 35, S.143, Berlin 1979. Lenin Collected Works, vol. 15, Moscow, 1966, p. 168.

24 Pieter Jelles Troelstra (1860-1930) war ein Gründungsmitglied und der SDAP (Sociaal-Demokratische Arbeiders Partij) in den Niederlanden. Er manipulierte den Linkerflügel aus der Partei, der dann 1909 die SDP (Sociaal-Demokratische Partij) gründete. Prominente Mitglieder waren Pannekoek und Gorter.

25 Anton Pannekoek, De ineenstorting van de Internationale (1914), S. 9/10.

26 Anton Pannekoek, The downfall of the International, in: The New Review, S. 11/12. Pannekoek spricht hier nicht von einer Notwendigkeit des Kapitalexports.

27 Herman Gorter, Het imperialisme, de wereldoorlog en de sociaaldemocratie (1914). Insgesamt erschienen drei Ausgaben dieser Version. Eine deutsche Übersetzung von Pannekoek wurde von Gorter abgelehnt, weil Pannekoek zu viel davon zu seiner eigenen Broschüre gemacht hätte. Augusta de Wit hätte dann die Übersetzung der Ersten Ausgabe ins Deutsche (1915) angefertigt, die eher schlecht war. Eine Übersetzung aus dem Deutschen ins Englische durch die International Socialist Review wurde von Gorter abgelehnt. Diese Version könnte auf marxists.org erschienen sein. Die Fassung, auf die sich Gorters Biograph De Liagre Böhl bezieht, erschien nach dem Krieg, 1919 in München. (Quelle: SUN-Ausgabe, S. 127/131). Diese letzte deutsche Übersetzung ist korrekt und wurde kürzlich neu aufgelegt. Hier wird immer aus diese Neuausgabe zitiert.

28 Lenin, Die Sophismen der Sozialchauvinisten (1915). Lenin Werke, Bd. 21, S. 176. Das Zitat Gorters befindet sich in der Neuausgabe von Gorters Brochüre an S. 88/9.

29 Neuausgabe von Gorters Brochüre, S. 61/2.

30 Lenin, Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht. Thesen (Vorbote 1916). Lenin Werke, Bd. 22, p. 153. Online verfügbar in niederländischer Übersetzung unter marxistst.org.

31 Neuausgabe von Gorters Brochüre, S. 116.

32 Neuausgabe von Gorters Brochüre, S. 116.

33 Ich habe diese Idee der „permanenten Revolution“ in The fatal myth of the bourgeois revolution in Russia kritisiert.

34 Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Kap. VII. Der Imperialismus als besonderes Stadium des Kapitalismus.

35 GIK, Marxismus und Staatskommunismus. Das Absterben des Staates. Übrigens kritisierte Pannekoek, schon vor 1917, wiederholt die staats- und kommunalkapitalistischen Tendenzen des Reformismus, siehe Staatssozialismus (1913).

36 Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Kap.VII. Der Imperialismus als besonderes Stadium des Kapitalismus.

37 Lenin, Über die „Junius“-Broschüre, (1916).

38 Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Eine populäre Abhandlung, Kap. VII.

39 Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Kap.VIII. Parasitismus und Fäulnis des Kapitalismus.

40 Karl Marx, Thesen über Feuerbach, These 1.

41 Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Kap. X. Der Platz des Imperialismus in der Geschichte.

42 Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Kap. X. Der Platz des Imperialismus in der Geschichte.

43 Lenin, Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll (September 1917), (Lenin Werke, Bd. 25, S. 369).

44 Rosa Luxemburg, Die Russische Revolution (1918). Die hier relevanten Zitate wurden von der GIK in dem Artikel Die Ideologie des Nationalismus, Radencommunisme, November 1939, wiedergegeben. Siehe auch das kürzlich erschienene Buch Rätekommunismus 1938 bis 1940, herausgegeben von Thomas Köningshofen, S. 323.

45 Veröffentlicht in Radencommunisme, Juni 1939. Siehe auch das kürzlich erschienene Buch Rätekommunismus 1938 bis 1940, herausgegeben von Thomas Köningshofen, S. 229.

46 „Die Entwicklung der russischen Außenpolitik von 1917-1935“ / [Marxistisk Arbejder Politik, Dänemark]. – In: Internationale Rätekorrespondenz : Theoretisches und Diskussionsorgan für die Rätebewegung.  – Ausg[abe] der Gruppe Int[ernationaler]. Kommunisten, Holland. – 1935, Nr. 13 (Oktober). In der Wiederausgabe der ganzen Internationale Rätekorrespondenz 1934-1937 / Gruppe Internationaler Kommunisten (Holland), S. 253.

47 Februar 1939 veröffentlicht in Rätekommunismus 1938 bis 1940 S. 146.

48 Siehe F.C., The fatal myth of the bourgeois revolution in Russia.

49 Rätekommunismus 1938 bis 1940, S. 148.

50 Ebenda S. 149.

Der zwischenimperialistische Krieg in der Ukraine

6 Gedanken zu “Der zwischenimperialistische Krieg in der Ukraine

  1. […] [3] Diese Analyse geht insbesondere auf Herman Gorter, Der Imperialismus, der Weltkrieg und die Sozialdemokratie (1914) zurück: https://www.raetekommunismus.de/Texte_Gorter/Gorter%20Imperialismus%20Fraktur%201919_2.pdf.Zu den Differenzen mit Lenins Auffassung vom Imperialismus und einer Anwendung auf den Krieg in der Ukraine siehe F.C., Der zwischenimperialistische krieg in der Ukraine– Von Luxemburg, Pannekoek, Gorter und Lenin zu „Rätekommunismus“: https://arbeiterstimmen.wordpress.com/2022/04/22/der-zwischenimperialistische-krieg-in-der-ukraine/ […]

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