Die Algerienkrise

Nuevo Curso zu den Massenprotesten im Maghreb

xargel-manifestacion
Algier, 2-4-019

Bouteflika wartete bis zum letzten Moment, um seine Präsidentschaftskandidatur vorzustellen. (1) Die Demonstranten sind immer noch auf dem Kriegspfad, weil sie wissen, dass die offizielle Kandidatur gewinnt. (2) Aber warum sollte die versteinerte algerische Bourgeoisie einen sterbenden Bouteflika aufzwingen, der von der medizinischen Versorgung in Genf lebt?

Eine Geschichte der Zerbrechlichkeit, eine explosive Situation

Abdelaziz Bouteflikas Biographie ist eine Zusammenfassung der Geschichte der algerischen nationalen Bourgeoisie, die aus dem berüchtigten Unabhängigkeitskrieg stammt, in dem die FLN („Front de Liberation National“) und der französische Staat um die Anwendung terroristischer Methoden konkurrierten. Der im Jahre 1962 resultierende Staat , idealisiert durch die europäische linke Propaganda, (3) flirtete in seinen frühen Jahren mit dem Sowjetblock. Nach einem Staatsstreich, bei dem ein junger Bouteflika, seit 1963 Außenminister, ein Schlüsselelement war, in dessen Algerien sich auf eine „Präferenzbeziehung“ zu Frankreich neu orientierte. Ausgerichtet an den „kritischen“ Sektoren der fast monolithischen algerischen Bourgeoisie – die fast drei Jahrzehnte lang ein Einparteiensystem aufrechterhielt – wurde er erst in den 1980er Jahren von der Macht verdrängt. Die Entwicklung der Wirtschaftskrise am Ende dieses Jahrzehnts führte zu einer wachsenden Unzufriedenheit der Kleinbourgeoisie, die in der Studentenrevolte von 1988 gipfelte. Bouteflika wird dann die „demokratische Öffnung“ verteidigen. Aber die ersten freien Kommunalwahlen endeten mit dem Wahlsieg der „Islamischen Heilsfront“, einem Ausdruck der Radikalisierung der Kleinbourgeoisie in ihrer Konfrontation mit der staatlichen Bourgeoisie der FLN. Auf die Annullierung der Wahlergebnisse folgte ein fast zehnjähriger Bürgerkrieg, der die wirtschaftliche Katastrophe und die Abhängigkeit des Landes von Frankreich verdoppelte. Er führte zu einem neuen Gleichgewicht zwischen den Fraktionen der ehemaligen FLN. Der von der Armee auferlegte neue Status quo des algerischen Staatskapitalismus hat Bouteflika wieder eingesetzt und ihn seit 1999 der Präsidentschaft zugewiesen. Unermüdlich von der Propaganda des Staates präsentiert als „unersetzlicher Führer“ war er Garant und Symbol für das neue innere Gleichgewicht und die imperialistischen Allianzen, die es dem militärischen Kern der algerischen Bourgeoisie ermöglichten, den Krieg gegen den Islamismus zu gewinnen.

Die Notwendigkeit, vom ersten Tag an einen eisernen autoritären und monolithischen Staatskapitalismus zu etablieren, die ständige Abhängigkeit von imperialistischen Bündnissen mit der UdSSR oder Frankreich und die Schwierigkeiten, den Zusammenhalt sowohl des sozialen Ganzen als auch innerhalb der herrschenden Klasse aufrechtzuerhalten, sind Beweise für die Grenzen des nationalen Befreiungsmodells der 1960er Jahre. In Algerien, wie überall sonst auch, konnte die politische Unabhängigkeit nicht eine unabhängige Entwicklung des nationalen Kapitals hervorbringen. Das „Manna“ der Kohlenwasserstoffe wurde bald zu einem Motor der Abhängigkeit, und das Fehlen von Solventmärkten verhinderte, dass die so sehr gewünschte Diversifizierung, die den Gewinnen aus Gas und Öl produktive Ziele geben würde, ausblieb. Algerien ist ein Lehrbuchbeispiel für den reaktionären Charakter der nationalen Befreiung während der Zerfallsphase des Kapitalismus.

Darüber hinaus hat Algerien Zweifellos versucht, sich vom ersten Tag an als regionaler hegemonialer Imperialismus zu behaupten. Das gilt natürlich auch für Libyen, wo Algerien heute ein zentraler Akteur im Verlauf des Bürgerkriegs ist; vor allem aber für Marokko, wo der alte Streit um die Sahara durch gegenseitige Vorwürfe wieder eröffnet wurde, (4) diplomatische Beleidigungen, ein endloses Wettrüsten (5) und betrügerische Angebote des „direkten Dialogs“ (6), die in der regionalen Tradition immer einer neuen Spirale interimperialistischer Konflikte vorausgehen. Die gleichzeitige politische und wirtschaftliche Krise in Tunesien und Marokko zu einer Zeit, in der das Gleichgewicht Libyens instabiler denn je ist und sich der französische Sahelkrieg bis in den Tschad erstreckt, macht die mögliche „militärische Lösung“ der algerischen Situation zur Gefahr eines regionalen Krieges. Heute ist die Armee bereits an der Südgrenze mobilisiert, angesichts der Ankunft irregulärer islamistischer Kräfte. (7)

Außerdem entwickelt sie [die Kriegsgefahr] sich in der Algerienkrise viel schneller als in ihre Nachbarn und dem zunehmend unruhigen französischen Kapital. Die spanischen Investitionen in Gas, die deutschen Investitionen in Montagewerke, die wachsende Präsenz des chinesischen Kapitals, (8) der italienische Druck auf Libyen, die europäische Politik der Migrationskontrolle…. eine Vielzahl von sich überschneidenden und widersprüchlichen imperialistischen Interessen verfolgen ihre eigenen Strategien in der Entwicklung der Situation. Algerien hat das Potenzial, Schauplatz eines imperialistischen „Jeden für sich“ zu werden, der die Instabilität vervielfacht.

Und die Arbeiter?

Die Führung der Mobilisierungen liegt vorerst bei den Studenten und der intellektuellen Kleinbourgeoisie. Die Bauernschaft und die Kleinbourgeoisie der Kabylei haben ihre eigenen Vorstellungen, die sie fast sofort umgesetzt haben. Aber das Proletariat ist hinterhergehinkt oder ist verhältnismäßig unbeteiligt geblieben.

Das bedeutet nicht, dass sie Bouteflika unterstützen, ganz im Gegenteil. An diesem Punkt der Geschichte gibt es keine Illusionen über den „algerischen Sozialismus“ und seine [vermeintliche] Liebe zu den Arbeitern. Die algerische Bourgeoisie hat 25.000 Migranten im Stich gelassen, um in der Wüste zu sterben (9), und hat den Europäern schamlos die Hand hingehalten, um die Belohnung zu erhalten. (10) Sie hält eine Vielzahl marokkanischer Migranten in extremer Armut und versklavt direkt Migranten aus den südlichen Sahara-Ländern, um die [Profit] Margen zu steigern. Nach der Cholera-Epidemie ist die Wut auf den Staat bei den meisten Arbeitern offensichtlich. (11) Im Laufe des letzten Jahres haben wir den langen Streik der Hausärzte, (12) den Lehrerstreik (13) und eine Vielzahl von Scharmützeln erlebt, die größtenteils ohne Rücksicht von den Sicherheitskräfte unterdrückt wurden. Aber alle Augen richten sich auf die Ölzonen, die Gebiete mit der größten Konzentration an Arbeitern. Die Atmosphäre, in der diese Krise empfangen wurde, ist angespannt und erwartungsvoll. Die Kampflust ist groß und jeder Funke – wie vor einigen Wochen eine gescheiterte Rettung (14) – kann sie schnell in einen Massenprotest verwandeln.

Und jetzt?

Das Angebot der algerischen Staatsbourgeoisie, die Kleinbourgeoisie zu beruhigen, ist das Versprechen, dass Bouteflika das Mandat weder beenden noch für die folgenden Wahlen „kandidieren“ wird. Das heißt, sie bitten um Zeit, um ihre eigenen Ränge ordnen und einen alternativen Kandidaten vorbereiten zu können. (15) Es ist zweifelhaft, dass dieses Angebot, das nicht über die Anliegen der herrschenden Klasse selbst hinausgeht, dazu beiträgt, irgendeinen sozialen Konsens zu schaffen. Auf jeden Fall besteht der einzige Faktor, der die algerische Krise zu einer Lösung führen kann, die weder steril noch reaktionär ist, darin, dass sich die Arbeiter mit ihren eigenen Forderungen mobilisieren. Die Mängel der tunesischen Mobilisierungen (16) und die Erfolge des Jerada-Massenstreiks (17) weisen den Weg.

Nuevo Curso, 4. März 2019

Das Thema dieses Artikels wurde für den 4. März 2019 gewählt von den Lesern von
Nuevo Curso’s‘ Nachrichtenkanal auf Telegram (@nuevocurso).

 

Quelle

Spanisches Orginal La crisis argelinahttps://nuevocurso.org/la-crisis-argelina/Übersetzt aus der englischen Fassung von H.C. The Algerian Crisis,  

 

Anmerkungen

3 For instance in the renowned movie “La batalla de Argel” directed by Pontecorvo (YouTube video: https://youtu.be/F8D_80qdxHg).

8 Dossier Jeune Afrique, Chine-Afrique, August 31, 2018: Algérie et Maroc, deux visions de l’opportunité asiatique

14 Al Jazeera, December 26, 2018: Protests erupt in Algeria after man dies in well.

17 Nuevo Curso, July 17, 2018: Marruecos en crisis.

 

NUEVO CURSO erscheint kürzlich als die Veröffentlichung von Emancipation, einer internationalistischen Organisation, die sich basiert auf der kommunistischen Linken Spaniens.
1920 gründete sie die Kommunistische Partei Spaniens, 1930 die spanische Gruppierung der linken Opposition gegen den Stalinismus und dann die spanische Kommunistische Linke, die an der Gründung der Internationalen Opposition teilnahm und die die Kommunistische Linke in Argentinien (1933-43) und Uruguay (1937-43) gründete. Die Linke nimmt während des Arbeiteraufstands vom 19. Juli 1936 revolutionäre Positionen ein und ist die einzige marxistische Bewegung, die an dem revolutionären Aufstand von 1937 in Barcelona teilnimmt.

Sie wird 1938 zum spanischen Zweig der Vierten Internationale und kämpft seit 1943 gegen den Zentrismus in ihr; sie verurteilt ihren Verrat am Internationalismus und die damit verbundene Aufgabe des Klassenbereichs auf ihrem zweiten Kongress (1948), der zur Trennung der letzten internationalistischen Elemente führte.

Seit 1952 hat sie sich auf der Iberischen Halbinsel neu organisiert, der einzigen internationalistischen Bewegung in der Illegalität während der Herrschaft Francos über Spanien. Nach einem starken Rückgang durch Repressionen wurde sie von 1958 bis 1993 unter dem Akronym FOR international neu organisiert.


Folgendes historisches Dokument der „Kommunistischen Linke in Frankreich“ von 1945 über Nationalismus und „das Volk“, wurde geschrieben im Zusammenhang mit den interimperialistischen Kriegen der 1940er Jahre. In unserer heutigen Zeit, in der die Wirtschaftskrise tobt und die Kriege zwischen regionalen und imperialistischen Weltmächten zunehmen, bleibt der Nationalismus – oft in populären Formen – die gefährlichste bürgerliche Ideologie.

RESOLUTION ZU NATIONALISTISCHEN BEWEGUNGEN

Die Konferenz bekräftigt mit der Einstimmigkeit der Genossen als eine unveränderliche Grundsatzposition für Kommunisten angesichts der nationalen und kolonialen Bewegungen, die sich in der Ära der Dekadenz des Kapitalismus herausbilden und entwickeln können:

  1. Jede nationale Bewegung, die von oder gegen die bestehende Regierung geführt wird, ist nach ihrer Klassennatur antiproletarisch und konterrevolutionär.
  2. Die Teilnahme eines mehr oder weniger großen Teils des Proletariats an dieser Bewegung ändert nichts an ihrem Klassencharakter.
  3. Die nationalen Bewegungen haben ihre Grundlage im Interesse der Bourgeoisie oder eines Bruchteils der Bourgeoisie eines Landes, das sich der wirtschaftlichen und politischen Herrschaft einer anderen imperialistischen Bourgeoisie gegenübersieht, und erlauben es der Bourgeoisie in der gegenwärtigen historischen Periode, die allgemeine und unüberwindliche Krise, in der sich die Gesellschaft befindet, vor dem Proletariat zu verstecken.
  4. Die imperialistische Besatzung und Herrschaft, die im Proletariat der besetzten Länder eine tiefe Unzufriedenheit auf der Grundlage zunehmender Ausbeutung und Unterdrückung hervorruft, die auf das Äußerste gedrängt wird, bietet der nationalen Bourgeoisie die Mittel, diese Unzufriedenheit der Bevölkerung auszunutzen, indem sie sie mit einer nationalistischen und chauvinistischen Ideologie beeinflusst, mit deren Hilfe die Bourgeoisie das Proletariat von ihrem Klassengebiet abbringt und sogar in den imperialistischen Krieg lenkt.
  5. Die Klassenposition des Proletariats kann nur die Abkehr und Trennung von der gesamten nationalen Bewegung und der schärfste Kampf gegen den Chauvinismus sein.

Weil die nationalistischen Bewegungen aufgrund ihres Charakters als kapitalistische Klasse keine organische und ideologische Kontinuität zu den Klassenbewegungen des Proletariats haben, muss das Proletariat, um seine Klassenpositionen zu erreichen, alle Verbindungen zu den nationalistischen Bewegungen brechen und aufgeben.

‘Internationalisme’ (Gauche Communiste de France) N° 1, January 1945 (1)

Die Algerienkrise

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