Von November 1918 Zirkus Busch zur Münchner “Räte”-Republik 1919

2 Revolutionäre Soldaten auf einer Patrouillenfahrt in München
Revolutionäre Soldaten auf einer Patrouillenfahrt in München. Bundesarchiv, Bild 146-1992-092-04 / CC-BY-SA 3.0

Fortsetzung von Zur Novemberrevolution 1918

Ph. Bourrinet „Arbeiterräte in Deutschland 1918-23“

Teil 2: Dualität der Mächte – Ein zunehmend ungleiches Kräfteverhältnis

Zu Teil 1.

An der Oberfläche gab es eine Doppelmacht: die Arbeiter- und Soldatenräte auf der einen Seite, die neue Regierung auf der anderen Seite: Bundeskanzler Ebert, der eine von sozialistischen Parteien dominierte Koalition führte, die SPD und die ‘Unabhängige Partei’, die USPD, die jüngste Spaltung der Partei (1917). Das Programm ist eindeutig konterrevolutionär. Ebert erklärte in einer privaten Unterhaltung mit Prinz Max von Baden, dass die ‘soziale Revolution’ für ihn die Hölle der Verdammten hervorrief: „…Ich will sie nicht, ja, ich hasse sie als Sünde“ 1.

Um sich an der Spitze der Räte zu stellen, wissen die Mehrheitssozialisten das Einheitsfieber zu benützen, dessen die arbeitenden Massen besonders aufnahmefähig sind, die eine vergebliche Hoffnung auf eine „universelle Verbrüderung der Klassen“ hegen. Karl Liebknecht – der sich am 9. November geweigert hatte, als Geisel der sozialistischen Regierung beizutreten – warnte am nächsten Tag die 1.500 Delegierten der Arbeiter- und Soldatenräte, die sich im Zirkus Busch in Berlin versammelt hatten: „Die Konterrevolution ist bereits im Gange, sie ist bereits in Aktion, sie ist in unserer Mitte!“ 2. Einige der Soldatendelegierten, die fast alle von der Sozialdemokratie ernannt wurden, bedrohten Liebknecht mit ihren Waffen …

Die von der SPD manipulierten Soldatenräte besetzten das Terrain mit ihren Waffen, während sich die Arbeiterräte bescheiden die Kleinstbuden teilten.

Sehr schnell fiel die Mehrheit der Räte in die Hände der Sozialdemokratie, die ihre Führer (SPD und Gewerkschaften) auf erzwang, meist ohne Wahlen. So haben beispielsweise in Köln die Spitzen von SPD und USPD am 8. November in einer Sitzung und durch einfache Akklamation einen Arbeiterrat gebildet. Das Gleiche gilt für Kassel, wo der Rat und sein Vorstand (Aktionsausschuss) nach Diskussionen hinter den Kulissen zwischen den beiden sozialdemokratischen Parteien und den Gewerkschaften gebildet werden. Manchmal werden Räte gegründet mit Inbegriff von bürgerliche Parteien – wie das katholische Zentrum – im Ruhrgebiet. Wenn Räte gewählt werden, werden sie auf der Grundlage von Wahlkreisen gewählt, in denen Würdenträger vorherrschen. Das ist in Dresden der Fall, wo die SPD fast den ganzen Kuchen übernimmt. Dies führte zum raschen Auslauf (16 November) der IKD (internationalistische Kommunisten) unter der Leitung von Otto Rühle, der glaubte, dass die gesamte wirkliche Bewegung nun auf den Straßen und in den Fabriken zu finden sei.

Die Pyramide der Räte ist umgekehrt: Die vom Staat dank der regierenden SPD anerkannten Gewerkschaften sehen ihren Einfluss von unten nach oben zunehmen und lösen in den regionalen Räte die kommunalen Räten in den Händen der Radikalsten auf.

Dennoch ist die Wiederergreifung der Macht in bedeutenden regionalen Zentren nicht einfach. Der Bremer Rat verbietet jede Sitzung oder Demonstration zugunsten der Wiederherstellung des Senats. Räte schaffen ihre eigenen Streitkräfte, wie in Frankfurt, Düsseldorf, Hamburg. In Braunschweig wurde am 9. November die Sozialistische Republik mit einer roten Garde von 1.000 Mitgliedern ausgerufen. Das Gleiche gilt für Bremen, wo die Räterepublik wenige Tage später, am 15. November, gebildet wurde. In Industriezentren entstehen Embryonen von Rote Garden von Halle bis Berlin. In der letztgenannten Stadt scheiterte der spartakistische Versuch, eine Rote Garde, den Roten Soldatenbund, zu schaffen: Sie begnügte sich damit im November und Dezember zu demonstrieren. Liebknecht, der sich mit der „militärischen Frage“ beschäftigt, stützt sich auf den Polizeipräfekten Eichhorn, eine linker USPD-er mit Truppe, und auf die Volksmarinedivision. Letztere sind sehr radikal, erhalten aber ein Sold. Während der Kämpfe im Januar 1919, nachdem sie im Dezember schwere Verluste gegen die Truppen von General Lequis erlitten hatten, erklärten sich die Seeleute für „neutral“, um weiterhin ihren Sold zu erhalten.

Das Königreich Bayern ist ein Sonderfall. Die ebenfalls in Aufruhr befindlichen Seeleute des österreichisch-ungarischen Hafens von Pula (Istrien) kamen sehr schnell in München an, wo ihre entschlossene Präsenz jeden Widerstand der bayerischen Armee neutralisierte. Am 8. November proklamiert der zum Ministerpräsidenten ernannte pazifistische Unabhängiger Kurt Eisner, – mit Unterstützung der Räte – die Republik und die Gründung des Freistaates Bayern (Freier Volksstaat), der den Privatbesitz beibehält. Er sucht eine „Synthese“ (sehr „sozialistisch“): von Parlament und Räte als Organe einer vereinten Macht. Aber die Spartakisten (jetzt Kommunisten) sind für den Boykott der Wahlen, ebenso wie der revolutionäre Arbeiterrat, zu dessen Initiatoren Erich Mühsam gehört. Am 10. Januar 1919 lässt Eisner zwölf Mitglieder der Kommunistischen Partei und des revolutionären Rates verhaften, darunter Max Levine (KPD) und Mühsam (Anarchist). Eine spontane Demonstration führte zu ihrer Freilassung. Die SPD kam zur Mehrheit im Landtag und Eisner wurde am 23. Februar 1919 von einem Rechtsextremisten ermordet, während er zurücktrat. Im April 1919 eröffnete sich eine weitere Seite, sehr verwirrt, die der Bayerischen Räterepublik, die ebenfalls, einige Wochen später, am 1. Mai, schnell niedergeschlagen wurde.

Wie ein Buch, das damals der „Kommunistischen Linken in Deutschland“ gewidmet war, feststellt, ist das Studium einer Revolutionszeit nicht die Herstellung einer neuen „Mythologie“, in der Parteien und Räte immer „revolutionär“ wären: „… die (heutigen) Rätetisten [Übersetzung vom französischen ‘conseillistes’] sprechen immer noch vom Rat, als ob er immer ein Revolutionärer Rat wäre, während dies die Ausnahme war in der deutschen Revolution“ 3.

Gerade diese Schwäche der Revolution, bei der Radikalität von Anfang an die Ausnahme ist, ermöglicht es der neuen sozialdemokratischen Macht, ein populistischer Diskurs zu halten. Alle Macht muss dem „ganzen Volk“, kurz gesagt der Nation, zufließen und darf nicht den Arbeiterräten überlassen werden. Am 13. November machte der Chefredakteur des Vorwärts, einem Organ der SPD, eine klare Aussage. Der „Sieg“ des November wird nicht der der „Diktatur des Proletariats“ sein; die Macht wird die Form einer „Volksdemokratie“ annehmen: „Wir haben gewonnen, aber wir haben nicht nur für uns allein gewonnen, wir haben für das ganze Volk gewonnen! Deshalb lautet unser Motto nicht: ‘Alle Macht den Sowjets’, sondern ‘Die ganze Macht dem ganzen Volke’.“ 4.

Quelle: Philippe Bourrinet, 12. September 2017. Zweiter Teil von “Les conseils ouvriers en Allemagne 1918-23” in Controverses. Forum pour une Gauche Communiste Internationale. No. 5. Mai 2018. S. 31.

Zur Fortsetzung, Teil 3.

1 Prince Max von Baden, Erinnerungen und Dokumente, Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart, 1928, S. 600.

2 Jakov Drabkin, Die Novemberrevolution 1918 in Deutschland, Dietz, Berlin 1968, S. 166.

3 Jean Barrot (Gilles Dauvé) & Didier Authier, La Gauche communiste en Allemagne 1918-1921, coll. Critique de la politique (dirigée par Miguel Abensour), Payot, Paris, 1976.

4 Friedrich Stampfer, Die Reichsregierung und die Arbeiter- und Soldatenräte, Vorwärts, Berlin, 13 nov. 1918. Zitiert von Pierre Broué, op. cit., S. 169.

Die Weltrevolution zögert

Zwei Texte von Pannekoek und drei Dokumente der Bayrischen Räterepublik

Anton Pannekoek “Der Sozialismus der sozialistischen Regierung”

Auf der Konferenz der Bundesstaatenvertreter meinte der Stuttgarter Reformist Heymann, die A.- und S.-Räte hätten ihre Arbeit getan, das alte System gestürzt, und nun könnten sie gehen; die Revolution ist vollendet, wir haben eine sozialistische Regierung und ein neues Deutschland kann aufwachsen. Also wäre nach seiner Ansicht die Revolution fertig und vollendet. Sehen wir, was die Revolution geleistet hat.

Sie hat allerhand alten feudalen Unrat beseitigt und damit Deutschland zu einem modernen bürgerlichen Staat gemacht. Keiner wird behaupten, Deutschland sei ein sozialistisches Land. Es sind Kräfte vorhanden, die zum Sozialismus hinführen können, aber vorläufig ist die Republik noch eine bürgerliche Republik. Die Arbeiter und Soldaten haben den Kaiser und einige Generäle gestürzt, die sie als die Schuldigen am Kriegselend betrachteten. Aber sie haben zugelassen, daß an deren Stelle die Mitschuldigen, die durch ihre Zustimmung und Unterstützung das Kriegselend möglich machten, die Ebert und Scheidemann jetzt regieren.

Es sind einige neue Leute an die Spitze getreten. Glaubt man, daß damit etwas Wesentliches geschehen ist? Nehmen wir an, die Leute an der Spitze wären nicht, die sie sind, sondern revolutionäre Männer des Volkes, die mit aller Kraft den Sozialismus verwirklichen wollen. Glaubt einer, daß damit die Suche gesichert wäre? Sie brauchen nur durch irgendeinen Umschlag der Machtverhältnisse durch andere ersetzt zu werden, und der ganze Sozialismus ist wieder verschwunden. Nicht, daß neue Leute da sind, die sich Sozialisten nennen, bestimmt das Wesen der neuen Republik, sondern was sie tun, um die Revolution zu festigen und vorwärts zu treiben. Was haben sie getan?

Sie fingen damit an, die ganze alte Bürokratie intakt zu lassen. All diese Herren, die die Arbeiter jahrzehntelang schuhregelten und quälten, sie sind nicht mit Schimpf davongejagt, sondern fast alle im Amte belassen. Der ganze Unterdrückungsapparat besteht noch unversehrt; der Druck der schweren Hand hat bloß, den Umständen Rechnung tragend, etwas nachgelassen. Die Herren haben sich alle — wie hübsch! — der neuen Ordnung zur Verfügung gestellt, und vorläufig gebärden sie sich alle demokratisch und tragen rote Abzeichen. Aber das beweist bloß, daß sie davon überzeugt sind, daß nachher ihre Zeit wiederkommt, und daß diese Regierung es nicht so übel meint. Wenn die Soldaten einmal nach Hause sind, die Arbeiter wieder in der Alltagsarbeit beschäftigt, wenn die geistige Atmosphäre der Revolution verraucht ist und die bürgerlichen Einflüsse wieder gewirkt haben, dann kommt die alte Zeit zurück mit ihren alten Behörden.

Eine revolutionäre Regierung hat zwei Dinge zu tun. Erstens die Macht des Gegners, die im ersten Ansturm niedergeworfen ist, völlig zu vernichten, damit sie sich nicht wieder erheben kann. Und zweitens die Macht der revolutionären Klasse zu festigen. Die Ebert-Haase-Regierung hat genau das entgegengesetzte getan: sie hat den großen Machtapparat der Bourgeoisie, die Staatsbürokratie in Stand gelassen und sucht den Massen weiszumachen, sie schulden diesen Herren Dank für ihren Patriotismus. Sie trachteten das neue Machtinstitut des Proletariats, die Soldatenräte, zu lähmen, indem sie die Disziplinargewalt der Offiziere wiederherzustellen suchten. Wäre ihnen das gelungen, so wäre der erste Schritt zur Konterrevolution gemacht. Die Soldaten haben an vielen Orten mehr sozialistische Einsicht gezeigt als diese Führer, indem sie diese Zumutung scharf zurückwiesen.

Lassalle hat in seiner Rede über Verfassungswesen — die jetzt zu studieren außerordentlich wertvoll ist — mit ätzender Schärfe die bürgerlichen Demokraten von 1848 verhöhnt, die nicht wußten, daß Verfassungsfragen Machtfragen sind, daß zuerst der Feind entwaffnet werden muß, und daß solange papierne Verfassungen wertlos sind. Er hat offenbar die Ebert und Haase vorausgeahnt, denn dasselbe Spiel wiederholt sich jetzt. Sie lenken die Augen der Massen auf die Nationalversammlung, die eine Verfassung feststellen soll, eine papierne Verfassung. Aber sie vergessen, daß die wirkliche Verfassung in den Machtverhältnissen liegt. Daß also ihre Hauptaufgabe darin liegen müsse, die reale Macht, die Machtinstitute des Proletariats zu stärken, die der Bourgeoisie zu schwächen. Und wenn man sie gewähren läßt, wird der Schluß sein, daß Hindenburg oder ein anderer General an der Spitze einer Armee, diese neue Regierung davonjagt und eine rein bürgerlich-kapitalistische Bourgeoisieherrschaft wiederherstellt.

Was sie in ihrer bürgerlichen Beschränktheit versäumen, müssen die Massen selbst nachholen: Festigung der Arbeiter- und Soldatenräte zu einer unangreifbaren Macht der Massen. Und wenn die Soldaten allmählich nach Hause gehen und demobilisiert werden, müssen an ihrer Stelle die Arbeiter bewaffnet werden. Nicht regellos, sondern die nach Fabriken und Werkstätten organisierten Arbeiter sollen fest organisierte rote Garden zur Verteidigung der Revolution bilden. Diese sind dann die Träger der politischen Macht, sie bilden das bewaffnete Volk, das seine eigenen Geschicke regeln und leiten kann.

Man wirft uns vor, wir wollen das Land durch eine Minderheit regieren lassen. Das ist unrichtig. Wir wollen, dass die Arbeiterklasse mit den anderen proletarischen Schichten zusammen das Land regieren — sie bilden die Mehrheit — und sich dazu Macht verschaffen sollen. Wir wissen ganz gut, daß die Mehrheit dieser Massen noch nicht auf unserem Standpunkte steht. Aber das schadet nicht, sie wird durch die Tatsachen belehrt werden, daß unser Weg der richtige ist, und darauf können wir warten. Aber wir wollen mit unseren Aufrufen verhindern, daß die Massen sich jetzt, da sie das noch nicht einsehen, von den falschen Führern, den Handlangern der Bourgeoisie entwaffnen lassen und dann später machtlos stehen, wenn sie des Besseren belehrt sind.

Die neue Regierung, als Verkörperung der Unklarheit, die noch in einem großen Teil der Massen herrscht, hängt zwischen Bourgeoisie und Proletariat, und hofft, ähnlich wie Kerenski in Rußland, mit beiden zusammen Mieten zu können. Sie wird daher nachher, in dem Maße wie das Klassenbewußtsein in den Massen schärfer wird und die Gegensätze losbrechen, den Halt verlieren und zerrieben werden, da sie nicht offen wählen kann. Vorläufig muß sie beiden Klassen etwas bieten; und zwar gibt sie, der Klarheit des Klassenbewußtseins beiderseits entsprechend, der Bourgeoisie Taten, den Arbeitern schöne Worte. Den Arbeitern — wie in der Proklamation an die zurückkehrende Armee — wird der Sozialismus versprochen — nur nicht zu schnell, nicht überstürzt, keine Experimente! Der Bourgeoisie wird aber zugesichert, daß die Regierung nicht daran denket, die Banken zu nationalisieren, oder den Besitz anzutasten; und die Bourgeoisie fängt auch ruhig an, ihre kapitalistische Wirtschaft wiederaufzubauen.

In dieser Haltung steckt vor allem Unfähigkeit und Ratlosigkeit. Die neue Regierung sieht keine Möglichkeit, eine neue Ordnung kräftig einzuleiten. Sie muß sich stützen auf die Hilfe der alten Bürokratie, weil sie kein Vertrauen hat zu den neuen Kräften der Massen. Sie traut sich nicht, in das wirtschaftliche Leben einzugreifen; sie glaubt nicht ohne die Bourgeoisie auskommen zu können — in Deutschland, das Kautsky vor 20 Jahren schon reif für den Sozialismus erklärte. Aber schließlich werden die entschiedeneren Elemente, wenn sie von den Massen weitergetrieben werden, doch etwas tun müssen. Die Unabhängigen arbeiten schon Pläne aus, mit der Sozialisierung einen Anfang zu machen. Wird dann der Sozialismus nicht doch kommen?

Hier liegt eine neue Gefahr für die Massen, wenn sie nicht scharf aufpassen. Die sozialistischen Maßnahmen, die hier gemeint werden, betreffen Verstaatlichung großer Privatbetriebe. Das ist aber nicht der Sozialismus den das Proletariat braucht, sondern es ist Staatssozialismus. Und damit ist das Proletariat nicht besser, sondern eher schlimmer daran. Schon vor zwei Jahren, als Jaffé, der jetzige bayrische Finanzminister, mit seinen staatssozialistischen Plänen hervortrat, ist dagegen im Vorboten gewarnt worden.

Staatssozialismus ist der Gipfelpunkt des Kapitalismus; und weitblickende Großkapitalisten haben sich dafür schon ausgesprochen. Wenn der Staat ihre Riesenbetriebe übernimmt, sorgt er für das Eintreiben des Mehrwerts, den sie als Zinsen bekommen, und sie haben keine Scherereien mehr mit den Arbeitern. Der Staat hält die Arbeiter nieder — indem er einen Teil eine Vorzugsstellung gibt und korrumpiert und damit den Rest durch seine Macht widerstandsunfähig macht — und sichert dem Kapital seine Einkünfte. Es ist auch eine Regelung der Produktion, eine Organisation der Arbeit, also Sozialismus, aber ein Sozialismus, der die tiefste, unabänderlichste Sklaverei des Proletariats bedeutet. Von dem proletarischen Sozialismus unterscheidet er sich dadurch, daß die Ausbeutung bestehen bleibt. Nicht die Organisation durch den Staat, sondern die Ausbeutung, das Kapitaleinkommen unterscheidet beide. Proletarischer Sozialismus besteht nicht bloß in der Sozialisierung der Produktion, sondern in erster Linie in der Konfiskation des Kapitaleinkommens. Ob die Verstaatlichung zum einen oder zum anderen führt, hängt davon ab, welcher Staat sie durchführt, wer die Macht im Staate besitzt. Und daher kommen wir wieder zu demselben Schluß wie vorher: Die Kernfrage der heutigen Situation ist die Frage der gesellschaftlichen Macht. („Der Sozialismus ist nicht eine Frage der Staatsbetriebe, sondern eine Frage der Macht des Proletariats“. (Vorbote Nr. 2, Seite 25) Anmerkung von Pannekoek).

Wenn eine Regierung, wie die heutige, Verstaatlichung ankündigt, ohne die Machtmittel des Proletariats allmächtig zu machen, und die Machtmittel der Bourgeoisie zu vernichten, so führt das zum Staatssozialismus, zur schlimmsten Sklaverei des Proletariats. Nur wenn die Arbeiterklasse sich die ganze Macht im Staate sichert und die Bourgeoisie machtlos macht, wird sie durch Verstaatlichung der Produktion zum Sozialismus und zur Freiheit gelangen.

Quelle:  „Der Sozialismus der sozialistischen Regierung“ (14. Dezember 1918 ) Arbeiterpolitik 1918, Nr. 50, nach Marxists‘ Internet Archive.

2 Der vom Sicherheits-Bataillon Ulm gefangengenommene 18-jährige Eisendreher Johann Lehner kurz vor seiner Hinrichtung, 3. Mai 1919
Der vom Sicherheits-Bataillon Ulm gefangengenommene 18-jährige Eisendreher Johann Lehner kurz vor seiner Hinrichtung, 3. Mai 1919. Bundesarchiv, Bild 146-2004-0048 / CC-BY-SA >

Anton Pannekoek „Bolschewismus und Demokratie“

Die Frage der Demokratie ist jetzt die große Streitfrage in der Reorganisation Deutschlands. Die vorläufige Regierung tut ihr Möglichstes die alte Staatsgewalt zu festigen gegen die neue revolutionäre Gewalt der Arbeitermassen. Ihr kommt dabei die ganze geistige Erbschaft der alten sozialdemokratischen Partei zu Gute; mit den „altbewährten“ Sätzen, die viele Jahrzehnte lang durch die Partei in ihrer Agitation den Massen eingepaukt wurden, hofft sie die weniger klar blickenden Arbeiter zu beruhigen. Demgegenüber können die revolutionären Wortführer des Proletariats sich stützen auf alles, was die Erfahrung der letzten Jahre uns Neues gelehrt hat. Und diese neuen Einblicke beziehen sich vor Allem auf die Demokratie.

Was bedeutet, was soll die Demokratie? Regierung des Volkes. Das Volk soll sich selbst regieren, nicht von anderen regiert werden. Es soll seine Angelegenheiten selbst, nach eigenem Willen besorgen.

In diesem Satz ist sofort zu bemerken, daß er, so wie er buchstäblich lautet, außerhalb der Realität steht und nur über unwesentliche Begriffe handelt. Denn ein „Volk“, das seine eigene Angelegenheiten regeln könnte, gibt es nicht. Das Volke ist gespalten in Klassen; Ausbeuter und Arbeiter stehen einander scharf gegenüber. Arbeiter und Ausbeuter haben keine oder nur sehr nebensächliche gemeinsame Angelegenheiten; einen gemeinsamen „eigenen“ Willen können sie nicht haben. Und wenn nach der strengsten, radikalsten formellen Demokratie Arbeiter und Bourgeoisie richtig nach ihrer Zahl in einem Parlament vertreten wären, wie könnten sie zusammen regieren?

Was könnten sie sonst als fortwährend hadern und einander in der Arbeit lähmen?

Wenn wir vom Volk reden, meinen wir die Volksmasse im Gegensatz zu der besitzenden Minorität. Dieses Volk, das arme, arbeitende Volk, die Proletarierklasse soll sich selbst regieren. Das Proletariat bildet die Masse, die Mehrheit; ihr Interesse soll also alles Geschehen in der Gesellschaft beherrschen.

Es soll nicht vorherrschen, indem zu 10 Prozent auch das Bourgeoisinteresse ein Bißchen mitzählt — das ist ebenso unmöglich, als die Vorstellung des Reformisten, daß früher das Arbeitsinteresse ein Bißchen mitzählte, als in Wirklichkeit das Kapitalinteresse allbeherrschend war. Das Interesse der arbeitenden Masse soll allein herrschen. Von zwei völlig entgegengesetzten politischen Zielen kann nur eins verfolgt werden.

Wir haben früher auch bisweilen Kritik an dem allgemeinen Wahlrecht geübt. Wir sagten: die Menschen sind einander nicht gleich, also sollen auch ihre Stimmen nicht gleich sein. Ein Mensch, der nur von seinem Kapital lebt, nicht arbeitet, nur als Parasit, als Drohne am Körper der Gesellschaft schmarotzt, soll doch nicht ebenso viel dareinzureden haben, wie ein Arbeiter, der durch seine Arbeit die Gesellschaft in Stand hält. Dieser Grund war gewissermaßen ein ethischer. Jetzt können wir noch besser sagen: das Ziel unserer Politik, die jetzt notwendige Arbeit des sozialistischen Aufbaus der Gesellschaft, ist so völlig dem Interesse der Bourgeoisie entgegengesetzt, daß sie diese Arbeit möglichst zu hindern und zu hintertreiben suchen wird. Wer wird bei dem Bauen einer Wohnung Leute dabei aufnehmen, die nach Kräften zu hindern und zu zerstören suchen? Steht es einmal fest für die Arbeitermassen, daß sie ihre politische Herrschaft zum Ausbau des Sozialismus benutzen wollen, so muß sie die Bourgeoisie von der Mitarbeit ausschließen; Kapitalinteressen dürfen nicht mitreden. Das ist zwar keine formelle Demokratie; aber in der Tat eine höhere, bessere Demokratie. die Arbeiterdemokratie, die die Lebensinteressen der Masse vertritt. Sie ist dasselbe was Marx die Diktatur des Proletariats nannte. Sie ist was früher Kommunismus und jetzt Bolschewismus genannt wird. Sie ist im großen Maßstabe jetzt in Rußland durchgeführt worden, nachdem die Pariser Kommune im Jahre 1871 die ersten Anfänge gezeigt hatte.

Man könnte nun fragen, wie sich das praktisch machen läßt, bestimmte Personen wegen ihrer Zugehörigkeit zur Bourgeoisie vom Wahlrecht auszuschließen — abgesehen noch davon, daß das immerhin äußerlich als ein ungerechter Willkürakt erscheinen wird. Aber man vergißt dabei, daß die Herrschaft der proletarischen Massen zur Reorganisation der Gesellschaft gar nicht die Form einer Parlamentsregierung annehmen wird. Das zeigte sich schon bei der Pariser Kommune. Diese Körperschaft teilte sich bald in eine Anzahl Arbeitskommissionen, die die verschiedenen Verwaltungsgebiete besorgten: Verkehrswesen, Arbeitsregelung, Lebensmittelversorgung, Heeresorganisation, Unterricht usw. Das konnte nicht alles von oben geschehen: diese Kommissionen mußten in Verbindung treten mit den selbstgebildeten Verwaltungskomitees einzelner Stadtteile; und hätte die Kommune länger bestanden, so hätte man sicher den Umweg der Wahl einer allgemeinen parlamentarischen Körperschaft abgeschafft und die zentralen Verwaltungskommissionen aus den Arbeiterorganisationen hervorgehen lassen. Aus der traditionellen Form des Parlaments bildeten sich von selbst im Kleinen neue Organe einer proletarischen Regierung.

Ähnliches, aber in einer viel vollendeteren Gestalt, hat sich in Rußland entwickelt. Die Arbeiterräte in der Stadt, die Bauernräte auf dem Lande und die Elemente, aus denen die Regierung von unten ausgebaut wird; sie bilden die Räte, die die verschiedenen Verwaltungen besorgen. Die Stadtverwaltung wird von den Arbeiterräten der Stadt gewählt; und die Arbeiterräte der Fabriken einer bestimmten Branche wählen die Verwaltung dieser ganzen Branche über das ganze Land. Ein allgemeiner Sowjetkongreß, der dann und wann zusammentritt, bestimmt die allgemeine Politik; aber für jeden besonderen Zweig: Produktion, Lebensmittel, Verkehrswesen, Gesundheitspflege, Unterricht, treten besondere Kongresse zusammen, wohin die örtlichen Sowjets ihre sachverständigsten Mitglieder schieben, um Erfahrungen auszutauschen und gemeinsame Maßnahmen zu beschließen.

Diesen beweglichen Apparat hat das russische Volk sich gebildet aus der praktischen Notwendigkeit heraus, das gesellschaftliche Leben neu aufzubauen. Er bildet zugleich das Organ der proletarischen Diktatur; denn die Bourgeoisie kann darin keinen Anteil nehmen. Die Bourgeoisie wird nicht künstlich durch Enthaltung vom Wahlrecht aus der Regierung ausgeschlossen, sie findet einfach keinen Platz in dieser Organisation. Denn dieser Verwaltungsapparat, der zugleich Regierung ist, ist nicht auf die Personen, sondern auf die Arbeit aufgebaut: wer nicht in der Arbeit seinen Platz einnimmt, stellt sich selbst außerhalb der Möglichkeit, über die Geschicke des Landes mitzubestimmen. Der ehemalige Direktor oder Fabrikbesitzer, der bereit war als technischer Leiter weiter mitzuarbeiten — unter Kontrolle des Arbeiterrates — kann mit den anderen Arbeitern der Fabrik gleichberechtigt mitbestimmen. Die geistigen Berufe, die Ärzte, die Lehrer, die Künstler, bilden ihre eigenen Räte, die bei den sie berührenden Fragen mitbeschließen. All diese Räte bleiben stets in engster Verbindung mit den Massen, da sie fortwährend neu delegiert werden müssen und durch andere ersetzt. In solcher Weise muß dafür gesorgt werden, daß sich aus ihnen keine neue Bürokratie bildet; und dies ist möglich, weil zugleich durch intensive Lern- und Lehrtätigkeit die nötige Fähigkeit kein Monopol Einzelner bleibt.

Im Lichte dieser wirklichen Selbstregierung des Volkes wird erst klar, wie wenig auch das demokratischste Parlament eine Volksregierung verwirklichen kann. Es verwirklicht nur eine Regierung von Parlamentariern. Einmal vierjährlich oder jährlich müssen sie das Vertrauen des Volkes haben; durch schöne Reden, Versprechungen und Programme gewinnen sie die Stimmen, und dann sind sie Meister. Der unmittelbaren Einwirkung der Massen entzogen, nur einander beeinflussend, schalten sie während der ganzen Legislaturperiode, halten lange Reden und beschließen Gesetze. Aber doch nur zum Scheine sind sie allmächtig: die ganze Verwaltung liegt in den Händen der Beamtenschaft, der Bürokratie, die als Behörde über das Volk regiert. Diese sogenannte Trennung, der gesetzgebenden und der ausführenden Gewalt ist in den demokratischen Republiken der Welt das Mittel, die Massen zu beherrschen und ihnen doch den Schein vorzutäuschen, daß sie selbst herrschen; also das Mittel, die Herrschaft des Kapitals zu sichern. Die Praxis in Frankreich, Amerika, in der Schweiz, beweist, daß dort überall, trotz aller Demokratie, die Massen vom Kapital beherrscht und ausgebeutet werden. Und trotz des allgemeinen Wahlrechts sind die Massen machtlos und unfähig, dies zu ändern. Sie stehen einer kunstvollen Unterdrückungsmaschinerie gegenüber, die von Parlament. parlamentarischer Regierung und Beamtenschaft gebildet wird. Sie können nur an einer Stelle, dann und wann, bei den Wahlen, etwas beeinflussen: aber schon da kann sich ihr Wille nur halbwegs klären unter dem Dröhnen der Wahlreden und dem Rasseln der Programme. Soweit aber die gewählten Parlamentarier bemüht sind, dem Volkswillen zu genügen, sind sie bald umgarnt von dem parlamentarischen Schmutz: Parteidisziplin, Kulissenschieberei, Intrigen, Redeseligkeit; und die „Parlamentarische“ Regierung der Parteihäupter ist schon so gut wie unabhängig von Volkswillen. Und diese Regierung ist wieder halb machtlos gegen das feste Gefüge der Staatsbürokratie, der Behörden, die den Massen als eine fremde Herrschergewalt gegenüberstehen.

Parlamentsherrschaft ist das Steckenpferd der Fachpolitiker. die durch lange Reden in der „Quasselbude“ ihre Unentbehrlichkeit zeigen wollen. Ihnen graut vor dem Bolschewismus, denn wo bleiben sie dann? Wenn statt lange Reden zu holten. praktisch gearbeitet werden muß, sind sie in der Tat überflüssig.

Marx und Engels bezeichneten den Staat als die Organisation des Kapitals zur Niederhaltung der ausgebeuteten Klasse. Sie hätten hinzufügen können, daß die Demokratie daran nichts ändert, und bloß dazu dient den Massen den Schein vorzutäuschen, daß sie selbst Meister sind. Sie stellten daher als erste Aufgabe der proletarischen Revolution: die Zertrümmerung des Staates. Das heißt, daß diese Maschine, die die Massen beherrscht und die außerhalb ihres Bereichs liegt, dieser Behörden- und Parlamentsapparat beseitigt werden muß. Diese Frage bildet jetzt den Kernpunkt des Streites zwischen der revolutionären und der bürgerlichen Richtung. Von ihr hängt die nächste Zukunft ab; denn wenn die alte Staatsgewalt unausgesetzt bleibt, kann sie unter späteren Umständen wieder ein Werkzeug werden zur Niederhaltung der jetzt aufständischen Massen und die Kapitalherrschaft wiederherstellen.

Quelle: „Bolschewismus und Demokratie“ (14. Dezember 1918) Arbeiterpolitik 1918, Nr. 50, nach Marxists‘ Internet Archive. Siehe auch Sonderabdruck.

2 Einzug der Gardeschützendivision unter dem Jubel der Bevölkerung. Befreiung MünchensBundesarchiv_Bild_146-2006-0049,_Revolution_in_Bayern,_Gardeschützendivision
„Einzug der Gardeschützendivision unter dem Jubel der Bevölkerung. Befreiung Münchens“. Bundesarchiv, Bild 146-2006-0049 / CC-BY-SA 3.0 

Der Kampf der Kommunisten gegen die Schein-Räterepublik

Die “Münchner Rote Fahne” brachte in ihrer Nr. 21 vom 9. April 1919 eine scharfe Kritik an den Münchner Machthabern. Der Artikel lautete:

Rote Fahne „Drei Tage der “Räterepublik” ohne Räte“

Der Rätetag der Republik. Alles wie sonst. In den Betrieben schuften und fronen die Proletarier nach wie vor zugunsten des Kapitals. In den Ämtern sitzen nach wie vor die früheren kgl. Wittelsbacher [königliche] Beamten. An den Straßen die alten Hüter der kapitalistischen Wirtschaftsordnung mit dem Schutzmannsäbel. Kein bewaffneter Arbeiter zu erblicken. Keine roten Fahnen. Keine proletarische Besetzung in den Machtpositionen der Bourgeoisie. Noch liegen die Kapitale in den Safes der Banken. Noch klappern die Kuponscheren der Kriegsgewinnler und Dividendenjäger. Noch üben in den Gerichten die kgl. Landgerichtsräte Klassenjustiz. Alles wie sonst. Noch rattern die Rotationsmaschinen der kapitalistischen Presse und speien ihr Gift und ihre Galle, ihre Lügen und ihre Verdrehungen in die nach revolutionären Kampfworten begierige Menge.

Alles wie sonst. Nur an den Straßen von Wind und Regen zersetzte Plakate. „Nationalfeiertag!“ steht darauf. Nationalfeiertag! Nicht proletarischer Feiertag. Nicht internationaler Feiertag. Von der Nation sprechen sie, der einigen Nation der Arbeiter und Kapitalisten. Von der Nation – die die Proletarier nicht kennt. Und wollten doch die Diktatur des Proletariats errichten!

Diktatur des Proletariats? Ein anderes Plakat gibt uns die Antwort. „Belagerungszustand“ steht darüber und „Generalkommando“. Wie hieß es doch am ersten Tag so schön in dem Aufruf, den sie hinausfunkten in alle Winde: „Vom heutigen Tage an ist das bayrische Proletariat Herr seines Geschickes geworden“ und an dem gelben Plakat steht es in großer fetter Schrift, nach 8 Uhr darf niemand seine Wohnung verlassen. „Glücklicher Proletarier“ Proletarier, du bist „Herr deines eigenen Geschickes“ und darf nicht einmal darüber beschicken, um wieviel Uhr du die Straße betrittst.

O, sie sind revolutionär, die Herren. Sie haben ein bißchen herumgeblättert in den Telegrammen aus den ersten Tagen der russischen und ungarischen Sowjetrepubliken. Da stand etwas von Belagerungszustand. Nun glauben sie, es ebenso machen zu müssen. Die Toren! Sie vergessen eines: die Russen und Ungarn bewaffneten zuerst das Proletariat und entwaffneten die Bourgeoisie, dann erst erklärten sie den Belagerungszustand. Da war er gegen die Bourgeoisie zum Schutze des Proletariats verkündet.

In Bayern dagegen? Kein einziger Proletarier hat noch eine Waffe erhalten. Keinem einzigen Bürger ist noch die Waffe abgenommen. Da dient der Belagerungszustand der Bourgeoisie und richtet sich gegen das Proletariat. Während es nach Aufklärung durstet und in die Versammlungen strömt, darf es nicht einmal nach 8 Uhr abends auf der Straße sein. Erst eine erregte Menge auf der Straße, die das Automobil eines der Mitglieder der neuen Regierung anhält und es mit Drohungen überschüttet, bewirkt die große Gnade, daß das Aufenthaltsrecht auf der Straße gnädigst um drei Stunden verlängert wird.

Allerdings, wir haben eines nicht erwähnt. Es waren wunderbare Dekrete ausgearbeitet. Ein ganzer Berg von Blättern eng beschrieben mit der Schreibmaschine lieft in dem Portefeuille der Mitglieder der Regierung. Man hat es da so bequem. Man blättert in den russischen und ungarischen Dekreten herum, schreibt hier ein bißchen ab, schreibt dort ein bißchen ab, verwässert das Ganze mit verschwommenen unklaren Phrasen – und das Dekret ist fertig. Papier ist ja so geduldig.

Auf den Straßen gehen die Bourgeois und lächeln. Man könnte förmlich erschrecken über diese sorglose Heiterkeit der Bourgeoisie am ersten Tage der sogenannten Räterepublik. Wie sie lachten, wie sie Witze rissen. Sie wußten nur allzu gut (denn sie sind nüchterne Politiker, die Herren Bourgeois): eine Räterepublik ohne Räte, ohne Massen, eine Herrschaft ohne Bewaffnung des Proletariats – da kann die Bourgeoisie ruhig und sorglos bleiben.

Erst als die Rote Fahne das Proletariat aufrief, revolutionäre Obleute zu wählen, da änderte sich das Bild. Da sausten Autos der Bourgeoisie durch die Straßen und schleuderten Flugblätter mit Aufruf zu Pogromen in die Menge. Da tauchten die verkleideten Offiziere und Studenten in den Straßen auf und schürten und hetzten. Da sah man es: der Appell an die Masse jagt sie in Furcht. Dem suchen sie zu begegnen, indem sie an den unaufgeklärtesten Teil der Massen und an die dunkelsten Instinkte appellierten. Nun ging’s los: Judenhaß, Preuszenhaß, Kommunistenhaß.

Und die neue Regierung sitzt immer noch im Wittelsbacher Palais, dichtet Dekrete, freut sich, je dicker und dicker das Portefeuille der Herren Volksbeauftragten anschwollen von beschriebenen Blättern. Auf den Straßen war immer noch kein bewaffneter Arbeiter zu sehen.

Schon zieht Oberst Epp seine Freiwilligen zusammen. Die Studenten und andere Bourgeoissöhnchen strömen ihm aus allen Enden als Freiwillige zu. In Nürnberg ist der Kriegszustand erklärt. Unser Genosse Dr. Böhnheim ist dort verhaftet worden. In Weimar erklärten die Herren, daß sie nur die alte Regierung anerkennen. Schon wetzt Noske schon sein Schlächterschwert, um seinen bedrohten Parteigenossen und den bedrohten Kapitalisten zu Hilfe zu eilen.

Aber jetzt werden sie doch wenigstens das Proletariat aufrufen? Jetzt werden sie die Arbeiter aus den Betrieben herausholen, sie bewaffnen, den Generalstreik erklären, um das bewaffnete Proletariat auf der Straße zum Schutze gegen die Anschläge der Bourgeoisie und ihrer Helfershelfer in Bereitschaft zu halten.

Nichts dergleichen. Es werden Projekte geschmiedet, Dekrete entworfen über die Bildung einer roten Armee. Nicht die Arbeiterschaft, die noch in den Betrieben steht, soll bewaffnet werden, sondern es sollen besondere militärische Formationen gebildet werden und „es wird erst erwogen“, ob die Arbeiter, die in die rote Armee eintreten, in den Betrieben bleiben dürfen. Sie merken gar keinen Unterschied und glauben, rote Armee und Bewaffnung des Proletariats wäre ein und dasselbe. Sie vergessen daß die russische Sowjetmacht sofort zu Beginn ihrer Kämpfe die Arbeiter bewaffnete und erst später, viel später, als die Bourgeoisie aus ihren Positionen gedrängt war, die rote Armee gebildet hatte.

Aber auch dieses Dekret von der roten Armee liegt erst im Entwurf vor, wird erst geplant. Sie hat es nicht allzu eilig, die Räterepublik zu schützen. Schließlich hat sie auch recht.

Es ist ja gar keine Räterepublik da, es ist nichts da zum Schützen. Namen, Worte, eitel Schall und Rauch.

Sie sitzen zusammen im Wittelsbacher Palais und dichten Dekrete.

Sozialisierung des Bergbaues, Kommunalisierung der Hotels, rote Armee, sie dichten, dichten und dichten.

Draußen in den Betrieben, am Schraubstock, an den surrenden Maschinen, stehen die Arbeiter, verwirrt und beklommen. Sie fühlen instinktiv, was vorgeht. Sie sehen, wohin sie geraten sind. Sie begreifen, daß man sie irregeführt hat. Am Sonntag wird Mühsam in einer Versammlung bejubelt. Am Montag will man ihn im Kindl Keller schon nicht mehr sprechen lassen – die Plakate vom Belagerungszustand haben schon ihre aufklärende Wirkung getan – und seine politischen Gegner, die Kommunisten, müssen ihn mit ihren Leibern schützen, um ihn unversehrt aus der Versammlung herauszubringen.

Grauer Regenschauer hängt über München. Grau und trübe sind auch die Gedanken der kommunistischen Arbeiter.

Räterepublik ohne Räte. Proletarischen Diktatur ohne Proletariat. Volksbeauftragte ohne Aufträge des arbeitenden Volkes. Ein Projekt der roten Armee ohne Beihilfe des Proletariats, Sozialisierungsprojekte ohne wirkliches Ergreifen der Macht. Angebliche Siege ohne Kämpfe. Revolutionäre Phrasen ohne revolutionären Inhalt, revolutionäre Worte ohne revolutionäre Taten.

Der dritte Tag der bayerischen „Räte“-republik.

Durch die Rote Fahne hatte die Kommunistische Partei Deutschlands. Ortsgruppe München, das revolutionäre Proletariat München und die revolutionären Soldaten Münchens aufgefordert, sich eine wirkliche revolutionäre Vertretung zu schaffen. Das Proletariat und die Soldaten leisteten unserem Aufruf Folge. Gestern kamen die gewählten revolutionären Betriebsleute und revolutionären Soldatenvertreter zusammen. So tagte im Gegensatz zu all den Kommissionen und Gruppen zum ersten Mal eine vom Proletariat selbst gewählte Vertretung.

Die Wahlen sind noch nicht zu Ende. Heute werden die noch ausstehenden Betriebe und Truppenteile ihre Vertreter entsenden. Heute werden die wirklichen Vertreter des Proletariats und der Soldaten, die revolutionären Betriebsleute und die revolutionären Soldatenräte, zusammentreten. Dann werden sie zu beschließen haben, wie sie sich zu der jetzigen Schein-räteregierung verhalten. Ihre Stimme wird eine Kundgebung des Proletariats sein. Welch bittere Ironie. Es bedurfte erst unserer Aufrufe, unseres Bemühens, daß nachdem alle Abhängigen, Unabhängigen, Anarchisten, die niemand gewählt hatte, im Kriegsministerium, später im Wittelsbacher Palais getagt hatten – es bedurfte erst unseres Eintretens, damit in dieser proletarischen Räterepublik endlich auch einmal die Stimme des Proletariats erschallte. Und doch soll die Räterepublik angeblich schon drei Tage bestehen.

Graue Regenschauer hängen über München. Der 3. Tag der Schein-Räterepublik. Was wird in den nächsten Tagen das Proletariat sich selber holen?

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Aufruf der Kommunistischen Partei Münchens 9-4-1919

Für den Nachmittag und Abend des 9. April berief die Kommunistische Partei Münchens nachfolgende Versammlungen ein:

Öffentliche Volksversammlungen.

Heute Nachmittag um 5 Uhr auf der Theresienwiese und auf dem Oberwiesenfeld.

Erscheint in Massen!

Kommunistische Partei Deutschlands (Spartakusbund)
Ortsgruppe München.

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An die Arbeiterschaft!

In allen Betrieben, in welchen gestern und vorgestern noch keine Wahlen revolutionärer Arbeiter stattgefunden haben, müssen unverzüglich revolutionäre Obmänner als Delegierte zum

Rat Revolutionärer Betriebsobleute und Revolutionärer Soldatenvertreter

gewählt werden.

Jeder Betrieb sendet einen Revolutionären Obmann, Betriebe mit mehr als tausend Arbeiter je einen Revolutionären Obmann auf je tausend Arbeiter.

Jeder Revolutionäre Obmann muß ein Mandat mitbringen, auf welchem sein eigener Name, der Name des Betriebes sowie die Zahl der in letzterem beschäftigten Arbeiter angegeben ist.

Heute Abend 7 Uhr in Münchner Kindl-Keller

Sitzung

des Rates Revolutionärer Betriebsobleute und Revolutionärer Soldatenvertreter

Der geschäftsführende Ausschuß der Rates Rev. Betr. Obl. u. Rev. Sold.Vertr.

I.A.: Rotter

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An die Garnison Münchens!

In allen Formationen, in welchen gestern und vorgestern noch keine Wahlen revolutionärer Soldatenvertreter stattgefunden haben, müssen unverzüglich revolutionäre Soldatenvertreter als Delegierte zum

Rat Revolutionärer Betriebsobleute und Revolutionärer Soldatenvertreter

gewählt werden.

Jedes Bataillon sendet einen Revolutionären Soldatenvertreter.

Jeder Revolutionäre Soldatenvertreter muß ein Mandat mitbringen, auf welchem sein eigener Name, der Name der Formation und die Zahl der vertretenen Soldaten angegeben sein muß.

Heute Abend 7 Uhr in Münchner Kindl-Keller

Sitzung

des Rates Revolutionärer Betriebsobleute und revolutionärer Soldatenvertreter

Der geschäftsführende Ausschuß der Rates Rev. Betr. Obl. u. Rev. Sold.Vertr.

I.A.: Rotter

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Das Ergebnis dieser Versammlungen war, daß neben der Räterepublik-Regierung im Wittelsbacher Palais ein zehnköpfiger revolutionärer Zentralausschuß unter dem Vorsitz des Maurerpoliers Kloß im Münchner Kindl-Keller gebildet wurde, der allerdings nach außen nicht in Erscheinung trat, aber die Vorbereitungen für die am 13. April abends errichtete kommunistische Räterepublik machte.

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Quelle: Max Gerstl (Hg.), Die Münchener Räterepublik, München 1919.

 “Soldaten! Kameraden! Die Weltrevolution marschiert”

– Am 9-4-19 auf der Straße verteilt –

Die Weltrevolution marschiert. Die Stunde der Befreiung des arbeitenden Volkes vom Joche der Ausbeuter hat geschlagen. Das russische Proletariat, das sich in anderthalbjährigem, heldenhaftem Ringen gegen den Imperialismus der ganzen Welt siegreich behauptet hat, hält heute, gestützt auf seine unüberwindliche rote Armee, das Banner der Weltlösung fester in Händen denn je. Und es hat Verstärkung erhalten: zu dem Vortrupp der Russen hat sich der Stoßtrupp der Ungarn gestellt. Rote Siegesfahnen flattern den sozialistischen Armeen voran, die aus Rußland und der Ukraine unaufhaltsam westwärts drängen, um sich mit den ungarischen Brüdern zu vereinigen. In Nikolajew gingen deutsche Regimenter zu den Bolschewiki über. In Odessa weigerten sich französische Truppen gegen die Sowjetrepublik zu fechten. In Italien verkündete das Proletariat seine Solidarität mit Sowjetrußland. In England gehrt es und drängt es zum Streik.

Von allen Seiten leuchtendes Rot, rote Fahnen und Kolonnen im Anmarsch.

Die Weltrevolution marschiert.

Bleich und zitternd sehen die Kapitalisten Deutschlands und ihre verbrecherischen scheinsozialistischen Zuhälter vom Schlage Scheidemanns und Noskes ihr Verhängnis unaufhaltsam herannahen.

Doch sie wollen ihr Spiel noch nicht verloren geben. Die Waffe der Lüge ist zerbrochen.

Die Ausbeuter greifen zu ihrem letzten Mittel:
Zur brutalen Gewalt.

Soldaten! Kameraden! Seid auf der Hut! Zwar ist Bayern noch nicht wie Norddeutschland mit Weißgardisten überschwemmt, noch hat die bayrische Regierung keine Massengemetzel unter der revolutionären Arbeiterschaft im Namen der Ruhe und der Ordnung anrichten können. Noch nicht! Doch wie lange und auch in Bayern wird die Bourgeoisie mit Hilfe der scheinsozialistischen Regierung Proletarierblut fließen lassen.

Kameraden! Laßt Euch nicht durch die augenblickliche Ruhe einschläfern.

Es ist die Ruhe vor dem Sturm. Die Sturmboten sind bereits da.

Reinhartoffiziere in München.

Versteckte Werbung von Freiwilligen.

Spitzel und Provokateure aus Berlin.

Offene Bildung von Freiwilligen-Regimentern in Nürnberg.

Die wenigen Errungenschaften der Novemberrevolution sind den Kapitalisten ein Dorn im Auge. Sie dürften danach auch in Bayern mit Hilfe der Offizierskamarilla ein Gewalt- und Schreckensregiment aufzurichten, unter denen Eure Brüder in Norddeutschland bereits stöhnen und seufzen.

Und was tut Eure Regierung?

Sie sieht scheinbar von alledem nichts. Scheinbar. In Wirklichkeit arbeitet sie mit der Bourgeoisie Hand in Hand. Sie demobilisiert die vom revolutionären Geist ergriffenen regulären Truppenteile zu derselben Zeit, wo weißgardistische Formationen gebildet werden. Die Entwaffnung der Arbeiter folgt also jetzt die versteckte Entwaffnung der mit den Arbeitern sympathisierenden Soldaten. Sie gibt das Proletariat vollends preis und liefert es wehrlos an die kapitalistische Machthabern aus.


Sie treibt planmäßige Konterrevolution.

Revolutionäre Soldaten! Auf diesen schmählichen Verrat der Regierung Hoffmann-Schneppenhorst müßt ihr die entsprechende Antwort geben:

Entfernt rücksichtslos alle zweifelhaften und gegenrevolutionären Elemente aus Euren Soldatenräten!

Wählt nur entschiedene revolutionäre, Kommunisten, zu Euren Vertretern! Fordert ständig Rechenschaft von ihnen! Wahrt Euch das unbedingte Rückberufungsrecht!

Macht eure Räte zu Kampforganisationen!

Setzt der Konterrevolution die bewaffnete Macht der revolutionären Arbeiter, Bauern und Soldaten entgegen!

Sofort an die Arbeit! Es geht um Eure Zukunft. Jedes Zögern ist verhängnisvoll.

Es lebe die proletarische Weltrevolution!

Es lebe die rote Armee!

Quelle: Sammlung von Flugblättern betreffend die Münchener Räterepublik 1919, [Drucksachen in Oktav], [Ort wechselnd], [1919] 1/3

Von November 1918 Zirkus Busch zur Münchner “Räte”-Republik 1919

Ein Gedanke zu “Von November 1918 Zirkus Busch zur Münchner “Räte”-Republik 1919

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