Ph. Bourrinet „Arbeiterräte in Deutschland 1918-23“ Teil 1
‚An Emanzipation denken‘, ein Jahrhundert nach der weltweiten Revolutionswelle die 1917 begann, heißt den Begriff Emanzipation selbst in Frage stellen. Wer ist das Subjekt dieser Emanzipation und wer emanzipiert wen, in einem Kampf der alles andere als ein ideologisches Stechspiel innerhalb vier Wänden ist.
Diese Emanzipation hat ihren Ursprung in der arbeitenden Klasse (Hand- und Kopfarbeiter). Sie kann nicht mit einem „Volkskampf“ gleichgesetzt werden, dessen „Ursache“ national und patriotisch wäre.
‚An Emanzipation denken‘ im Jahr 2017 heißt auf die großen proletarischen revolutionären Aufstände in Russland und Deutschland zurückblicken und daraus zu Beginn des zweiten Jahrtausends Lehren ziehen. Der Revolution in Deutschland von 1918 bis 1921 ist daher ein unumgänglicher Meilenstein, da er die Frage nach den Organisationsformen eines jeden revolutionären Klassenkampfes aufwirft: Arbeiterräte, Arbeiterunionen, revolutionäre Betriebsorganisationen, Betriebsausschüsse oder Aktionskomitees. Wie die russische Revolution hat sie, wenn auch in geringerem Maße, in Ermangelung einer echten Machtübernahme, die Frage der Sozialisierung der Produktionsmittel und damit der Abschaffung des auf Profit gegründeten kapitalistischen Systems aufgeworfen.
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Wie in Russland 1905 nach der Niederlage gegen Japan und erneut im Februar 1917 waren die in Deutschland entstandenen Räte das Ergebnis des Krieges, genauer gesagt militärischer Niederlagen, die ein Machtvakuum erzeugten. Ein nach dem 9. November 1918 veröffentlichter Artikel von Liebknecht faßt diese Situation des inneren Zusammenbruchs perfekt zusammen, in der die Massen von Arbeitern und Proletariern in Uniform sich stürzen werden:
„ (…) der Sieg der Arbeiter- und Soldatenmassen war nicht so sehr ihrer Stoßkraft zu verdanken als dem inneren Zusammenbruch des früheren Systems; die politische Form der Revolution war nicht nur proletarische Aktion, sondern auch Flucht der herrschenden Klassen vor der Verantwortung für den Gang der Ereignisse; Flucht der herrschenden Klassen, die mit einem Seufzer der Erleichterung die Liquidation ihres Bankrotts dem Proletariat überließen und so der sozialen Revolution zu entgehen hoffen, deren Wetterleuchten ihnen den Angstschweiß auf die Stirn treibt.“ 1
Diese Räte sind Versammlungen von Arbeitern, aber auch von Soldaten, die – wie in Russland – den Krieg beenden wollen. Sie sind Ausdruck einer verallgemeinerten Wut der Arbeiter, die von der Militarisierung des täglichen Lebens ausgehungert und erschöpft sind, was sich in wiederholten Streiks in den wichtigen Industriesektoren ausdrückt, deren Geist immer revolutionärer wird: Streiks des April 1917 (300.000 Arbeiter und Arbeiterinnen in Berlin) und Januar 1918 (1 Million Streikende im Reich). Während dieser Kämpfe waren sich die kaiserliche Macht und die Sozialdemokratie einig: „Wer streiken geht, während unsere Armeen dem Feind gegenüberstehen, ist ein Hund“ (General Groener) 2. Am 31. Januar 1918 sagte SPD-Chef Ebert den Streikenden einer Berliner Fabrik, daß sie „die Pflicht [haben], ihre Brüder und Väter an der Front zu unterstützen und sie mit den besten Waffen zu versorgen.“ 3 Er wurde durch Schreie die ihn „Streikbrecher“ schelten unterbrochen und mußte sich schnell zurückziehen. Die SPD mußte bis zum 4. Oktober 1918 warten, bevor sie in die Kriegsführung einbezogen wurde. Der ernannte Reichskanzler Prinz Max von Baden bildete eine Koalitionsregierung aus bürgerlichen Demokraten und Sozialdemokraten, Friedrich Ebert, Gustav Bauer und Philipp Scheidemann.

Es war jedoch der Aufstand der Kieler Seeleute (4. November 1918) an der Ostsee, der den Sturz des Kaiserlichen Regimes zur Folge hatte. Fast ohne einen Schuß ergriffen die Seeleute die Macht und erhielten die Unterstützung der Kieler Arbeiter, die mit ihnen Arbeiter- und Soldatenräte bildeten. Gustav Noske, der sich später „Bluthund“ der Konterrevolution nennen sollte, wurde von Max von Baden, dem neuen Kanzler, geschickt um die Führung der Bewegung zu übernehmen und sie schnell zu ersticken, bevor die Armee die Beschießung eröffnen und Kiel in Schutt und Asche legen würde.
Es war schon zu spät, denn in wenigen Tagen entstanden in ganz Deutschland Arbeiter- und Soldatenräte. Es sollten 10.000 sein. Deutsche Städte sind mit roten Fahnen bedeckt und Menschenmassen laufen durch die Straßen und singen die Internationale. Es war eine Art „achtundvierziger“ Geist [nach den europäischen Revolutionen von 1848; der Übersetzer], in dem „jeder in gegenseitigem Vertrauen schwamm“, „Festivals der Freundschaft“, kurz „eine universelle Verbrüderung der Klassen“ [stattfand].“ 4
Manchmal war es eine Selbstverherrlichung, bei der die Radikalität der Phrase das Fehlen eines wirklichen revolutionären Projekts schlecht verbarg. In einer Stadt wie Hamburg verkündete Die Rote Fahne, das von Paul Frölich gegründete Organ der Räte: “
Es ist der Anfang der deutschen Revolution, der Weltrevolution! … Es lebe der Weltbolschewismus!“ 5 Aber in Hamburg wurde die Macht des aristokratischen Senats nie in Frage gestellt. Die „Radikalsten“, wie Laufenberg und Wolffheim – 1919-1920 Theoretiker des „Nationalbolschewismus“ – drängten auf Mäßigung, vermieden jeden Aufruf zum bewaffneten Kampf, billigten die Idee einer Nationalversammlung und erklärten sich dann plötzlich zu „Antiparlamentariern“. 6
Von Anfang an herrschte in den Räten der Arbeiter und Soldaten, auch bei ihren radikalsten Elementen, eine große politische Verwirrung. In seinen Memoiren gibt ein radikaler Seemann auf dem Schiff Helgoland eine Vorstellung vom Bewußtseinsniveau der Arbeiter und Proletarier in Uniform: „Sofortige Unterzeichnung des Friedens. Die Soldaten und Matrosen nach Hause schicken. Ernennung von Scheidemann zum Kanzler und Liebknecht zum Kriegsminister.“ 7
Fortsetzung folgt.
Quelle: “Les conseils ouvriers en Allemagne 1918-23”, Philippe Bourrinet, 12. September 2017 (Erster Teil) in Controverses. Forum pour une Gauche Communiste Internationale. No. 5. Mai 2018. S. 30.
Nachgelesen durch: H.C.
1 Liebknecht, „Das, was ist“, Die Rote Fahne, 21. nov. 1918. Zitiert von Gilbert Badia, Le spartakisme, L’Arche, Paris, 1967, S. 187.
2 Zitiert von P. Broué, Révolution en Allemagne 1917-23, Éd. de minuit, Paris, 1971, S. 103. Die Gewerkschaften sind im Einklang. In dem Vorwärts von 27 April 1917, wird zur Beendigung der Streiks aufgerufen: „Streiks müssen vermieden werden … Nur eine Erhöhung der Widerstandsfähigkeit Deutschlands kann uns zu einem schnellen Frieden führen“. (ibid.).
3 Broué, id.
4 Broué, id.
5 Paul Frölich, Rudolf Lindau, Albert Schreiner und Jakob Walcher, Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution 1929, Verlag Neue Kritik, Frankfurt, 1970, S. 192.
6 Paul Frölich, Autobiographie 1890-1921, Science marxiste, Montreuil-sous-Bois, 2011, S. 180.
7 Zitiert von Gilbert Badia, Histoire de l’Allemagne contemporaine, Messidor, Paris, 1987, S. 80.
Drei Texte von Anton Pannekoek in ‚Arbeiterpolitik‘
Anton Pannekoek „Neue Aufgaben“
„Von der Russischen Revolution von 1905 wurde mit Recht gesagt, daß sie eine bürgerliche Revolution war, mit proletarischen Mitteln vom Proletariat durchgeführt. Dasselbe gilt für die deutsche Novemberrevolution. Sie hat die bürgerliche Demokratie erkämpft durch die Massenkraft des Proletariats. Aber deshalb ist sie zugleich der erste Schritt zur proletarischen Revolution.
Im Oktober ergriff die deutsche Bourgeoisie im Parlament das Ruder, vierzig Jahre lang Anbeterin des Absolutismus ließ sie ihn fallen als er statt Sieg eine Niederlage brachte, nun warf sie sich auf die andere Seite und wurde parlamentarisch-demokratisch. Aber noch ging es so, als ob im nächsten Jahre die Sache sich wieder wenden könnte; nicht mit Unrecht redete die Ententepresse von Camouflage. Die alten Staatsinstitutionen blieben bestehen, nur die Personen an der Spitze wechselten. Da traten die bewaffneten Proletarier auf. Durch ihre einmütige Massenkraft warfen sie in ein paar Tagen fast ohne Widerstand das alte System nieder. Und damit ist etwas Unwiderrufliches geschehen. Der ganze mittelalterlich-feudale Plunder, der dem kapitalistischen deutschen Reich anhaftete — Kaiser und Junkertum, Bundesfürsten und Kleinstaaterei, Ständewahlrecht und Polizeiwirtschaft, Militarismus und Gottesgnadentum ist in dem Orkus verschwunden. Deutschland ist eine demokratische Republik geworden.
Aber das Proletariat hat keine Ursache Stolz darüber zu sein. Nur der kleinste Teil der Aufgabe ist gelöst. Ebert an der Spitze, der Vorsitzende der Sozialpatrioten, der immer den Imperialismus und die kaiserliche Regierung im Kriege unterstützte, bedeutet, daß die deutsche Republik keine sozialistische Arbeiterrepublik sein wird. Ebert wird von der bürgerlichen Presse sympathisch begrüßt, das Kapital weiß, daß es von ihm und seinen Leuten nichts zu befürchten und alles zu hoffen haben wird. Es rechnet darauf, daß diese Regierung von Scheinsozialisten die Arbeiter ruhig halten und einlullen wird, bis die neue bürgerliche Ordnung wiederhergestellt, die Massen entwaffnet und die Staatsgewalt wieder fest gegründet sein wird. Und dann können die Massen wieder ausgebeutet werden, und zwar schlimmer als je zuvor, denn um die Verluste wettzumachen, um die enorme Kriegsentschädigung zu zahlen, um neue Unternehmungen zu gründen, um neuen Mehrwert zu sammeln, wird das Kapital die Ausbeutung viel intensiver betreiben müssen als vorher. Es wird die Massen die Verarmung Europas tragen lassen. Aber dafür haben die Arbeiter ihre Revolution nicht gemacht. Sie haben Jahrzehnte den Sozialismus erhofft, dafür gekämpft und gewirkt, und seht ist die Zeit reif zum Ernten. Nie war die Gelegenheit so günstig für die volle Ergreifung der Macht und die Anbahnung des Sozialismus. Der Kapitalismus liegt geschwächt danieder, eine furchtbare Wirtschaftskrise lastet auf der Welt, die weitesten Volkskreise sind gegen die bürgerliche Ordnung aufgebracht, die Autorität und die Macht des Staates sind zusammengebrochen, Haß und Groll sind aus der tiefsten Not und dem Kriegselend ausgestammt. Und das allerwichtigste: die Arbeitermassen sind bewaffnet und organisiert: sie können jetzt der Gesellschaft ihren Willen auferlegen. Wenn sie nur ihre Ausgaben klar vor sich sehen und sich nicht durch Scheinkonzessionen betrügen lassen!
Es ist die Aufgabe der revolutionären Sozialdemokraten dem deutschen Proletariat den Weg zu zeigen. Sie sollen sich sofort mit einander vereinigen, ein gemeinsames revolutionäres Aktionsprogramm aufstellen und durch intensive Propaganda den Massen diese Forderungen nahelegen.
Die erste Hauptsache besteht darin, der politischen Revolution einen sozialen, d. h. einen sozialistischen Inhalt zu geben. Es handelt sich dabei nicht um einige radikale Reformen auf die Gebiete von Arbeiterschutz und Achtstundentag, diese werden die neuen Arbeiterräte selbst durchführen in den Werkstätten, denn sie besitzen die Macht, weil nicht mehr die Staatsgewalt die Unternehmer schützt. Es handelt sich um die großen Maßnahmen, die die Wirtschaft wieder aufrichten werden durch sozialistische Organisation. Überall wo Industrie und Handel unter staatlicher Kontrolle geraten und das durch einheitlich organisiert ist, soll die Organisation erhalten bleiben, aber neuen Zielen, der ausgiebigen Versorgung der Massen, angepaßt. Dann sollen alle großen Industrien, die Großbetriebe, die Bergwerke sofort verstaatlicht werden, und vor Allem auch die Banken; in Rußland hat durch Verstaatlichung der Banken und Verschmelzung zu einer Staatsbank die Sowjetregierung von selbst Kontrolle über einen großen Teil der Industrie gewonnen.
Damit wäre dem Finanzkapital die Macht genommen und die Grundlage zu einer sozialistischen Organisation der Produktion gelegt.
Dasselbe gilt für den Großgrundbesitz der Junker. Wird er vom Staate enteignet und den Landarbeiterorganisationen zum Betrieb übergeben, so ist dem Junkertum das Genick gebrochen und Ostelbien für die Revolution gewonnen. Damit ist dann der Anfang zu einer vollständigen Beherrschung und Regelung der Produktion und der Verteilung durch das Proletariat gemacht. Und zugleich wird für die Distribution gesorgt werden. Kapitalistische Distribution von der Seite der Behörden hat man in den Kriegsjahren zur Genüge kennen gelernt, jetzt muß die sozialistische Distribution von dem Prinzip ausgehen, daß allen Darbenden ein genügender Lebensunterhalt, allen Obdachlosen eine ausreichende Wohnung zugesichert wird. Dazu ist eine starke Besteuerung des Kapitalbesitzes und Konfiszierung der Kriegsgewinne nötig, während die Staatsschulden annulliert werden.
Zur Verwirklichung dieser Forderungen ist es nötig, daß die ganze politische Macht in die Hände des Proletariats organisiert wird, unter Ausschluß der Bourgeoisie. Mit der radikalen Bourgeoisie zusammen regieren wollen, bedeutet die Pferde vor und hinter dem Wagen spannen, damit er nicht vom Flecke kommt. Zuerst muß die Macht, die die Arbeiter fürn Augenblicke gewannen, dauernd verankert werden; Bewaffnung des Proletariats, Bildung von roten Garden, während die alte Armee demobilisiert und aufgelöst wird, d. h. während die Arbeiter aus den Regimentern in ihrem Heimatort zurückkehren. In den Arbeiterräten besitzt das Proletariat schon Vertretungskörperschaften, die seinem Zustande viel besser angepaßt sind als die parlamentarischen Schwatzbuden, wo bürgerliche Politiker ihre Redeturniere halten. Denn sie bleiben im stetigen Kontakt mit dem praktischen Arbeiterleben, wachsen aus der wirtschaftlichen Tätigkeit empor und ihre Mitglieder sind immerfort zu ersetzen. In dem Aufbau dieser Arbeiterräte, von Bauernräten ergänzt, liegt der Keim der künftigen proletarischen Regierung.
Zugleich muß die alte staatliche Bürokratie beseitigt werden, die von Ebert und Genossen im Amte belassen wurde. Solange dieser Unterdrückungsapparat intakt bleibt — nur zeitweilig gebeugt vom Sturm der Revolution — besteht die Gefahr, daß er sich neu erhebt und aufs Neue die Macht ergreift, sobald der Druck des Proletariats nachläßt.
Auch politisch ist das Programm des revolutionären Sozialismus von dem der radikalen Demokratie verschieden. Letztere findet seine höchste Äußerung in einem konstituierenden Reichstag, der die Verfassung beraten soll, und darin bürgerliche Leute, Sozialpatrioten und die schönen langen Reden halten werden. Aber solche vom allgemeinen Wahlrecht gewählten Körperschaften sind in revolutionären Zeitläufen gar nicht demokratisch. Denn in solchen Zeiten lernen die Massen fortwährend um, steigen sie zu immer besserer Einsicht empor, während ihre Vertreter nur die Ansichten der Massen am Wahltag wiedergeben. Die Massen werden daher ihrem Reichstag voraus sein, und ihre Vertreter werden nur ihre früheren Stufen der Entwicklung vertreten, daher mit ihnen verglichen reaktionär sein. Diesem Übelstand wäre nur durch das Institut des Widerrufs abzuhelfen, wobei jedes Mitglied zu jeder Zeit von den Wählern zurückberufen und von einem andern ersetzt werden könnte. Oder man müßte jedesmal nach kurzer, z. B. zweimonatlicher Sitzungsdauer den Reichstag wieder neu wählen lassen.
Quelle: „Neue Aufgaben“ (23. November 1918) Arbeiterpolitik 1918 Nr. 47, nach Marxists’ Internet Archive
Anton Pannekoek „Der Anfang”
„Und da die Verluste groß sind, ist die ganze Wirtschaft ein bankrottes Geschäft, weil Europa aufs Tiefste verarmt ist, muß die Bourgeoisie die Ausbeutung aufs höchste steigern, um möglichst rasch wieder zu Reichtum und Macht zu gelangen. Auch damit neue Rüstungen möglich sind.
Aber dazu ist als erste Grundbedingung notwendig: eine starke Staatsgewalt aufrichten zur Niederhaltung des Proletariats. Damit sind alle vorläufigen Regierungen, Volksregierungen, Staatsräte u.a. in fieberhafter Eile beschäftigt.
Sie schmeicheln den Massen, geben ihnen und sich selbst schöne Namen, und suchen die Arbeiter einzulollen, um sie untätig zu halten, bis ihre neure Ordnung gefestigt dasteht. Sie suchen die Arbeiter zu entwaffnen, denn das bewaffnete Volk ist gefährlich, und könnte leicht, wenn es einmütig seine Forderungen stellte, diese durchsetzen. Daher wird in den österreichischen Ländern Demobilisation angeordnet, womit man auch dem sehnlichem Wunsch der kriegsmüden Soldaten entgegenkommt, die Truppen die auf eigene Faust nach Hause ziehen, versucht mann unterwegs zu entwaffnen, nur „zuverlässige“ Regimenter werden mobilisiert gehalten, im Einvernehmen mit dem Sieger „um die Ordnung zu wahren“. Wenn es den neuen Regierungen gelingen könnte, so die Demobilisation durchzuführen, so wäre sie von einem Albdruck, von dem schlimmsten Angst befreit. Einstweilen sucht mann die Massen zu beruhigen durch angebliche demokratische Zugeständnisse. Soldatenräte werden errichtet, aber nur, um durch Namen, die einen gleichlautenden Klang haben, wie im revolutionären russischen Vorbild, die Massen zu betrügen, sie bestehen in Österreich aus Offizieren und Soldaten in gleicher Zahl, nicht als revolutionäres Werkzeug aufständiger Massen, sondern als reaktionäres Werkzeug zur Dämpfung und Lähmung revolutionärer Triebe. Ähnlich wie die Herren Renner u.a. die Arbeiterräte, die im vorigen Jahre gebildet wurden, in Werkzeuge zur Verhinderung von Streiks zu verwandeln wussten. An all diesem Betrug, an diesem ängstlichen, krampfhaften Bemühen der Bourgeoisie, die Arbeiter durch freundliches Zureden von der Revolution zurückzuhalten, tun die Sozialdemokraten aufs eifrigste mit. Jetzt sind, fast noch mehr als während des Krieges, die Scheidemänner aller Länder die wertvollsten Diener des Kapitals, die gefährlichsten Feinde des revolutionären Proletariats und des Sozialismus geworden.

Wenn die Arbeiter sich durch dieses Spiel betören lassen, werden sie sich auf Jahrzehnte der schlimmsten Unterdrückung und Ausbeutung in die Hände liefern. Wenn aber die Arbeiter sich nicht betören lassen, können sie jetzt das große Ziel, die sozialistische Gesellschaft, den Kommunismus erreichen.
Nie waren die Bedingungen so günstig, nie war die Notwendigkeit so handgreiflich und einleuchtend wie jetzt. Europa liegt danieder in furchtbarer Verwüstung, und nur eine organisierte Produktion, die nicht für den Mehrwert arbeitet, kann die Produktion wiederaufrichten, und eine allgemeine Wohlfahrt bringen. Rußland bietet das Beispiel — trotz aller Lügen und Tartarennachrichten der bürgerlichen Presse verstehen die Arbeiter, was dort in Wirklichkeit vor sich geht — wie trotz ungeheurer Schwierigkeiten die Lage der Massen sich unter Aufbau kommunistischer Wirtschaft fortwährend hebt. Und durch den Weltkrieg ist überall die Staatsautorität zerüttet, die gewohnte Ehrfurcht und Duldsamkeit der Massen ist verschwunden. Aufs tiefste erbittert, stehen sie den leitenden Mächten der Gesellschaft gegenüber, die Kriegsjahre haben die kleinliche Furcht früherer Zeiten ausgerottet und ihre bewaffneten Millionen können ihren Willen gebieterisch auferlegen. Und in ihnen lebt der Gedanke der Sozialismus, der Gedanke an eine andere Gesellschaftsordnung, sie kennen das Kapital, wenn auch nicht all seine Schlingen und Tücken, und mögen ihre Führer den Sozialismus noch so oft gefälscht und in eine harmlose Reformtätigkeit umgebildet haben — ihre eigenen Lebenserfahrung, ihre Not wird sie weitertreiben zu einem Radikalismus der Ziele, wie es jetzt nötig ist.
Man redet von einer großen, furchtbaren Zeit. Der Weltkrieg hat eine große äussere politische Revolution gebracht. Aber diese Umwälzung: der Zusammenbruch des deutschen Imperialismus, die Auslösung Europas in eine Reihe von Kleinstaaten unter Oberhoheit Amerikas ist noch unbedeutend verglichen mit dem was jetzt kommen muß und teilweise schon begonnen hat: die Revolution des Proletariats für den Kommunismus. Die große Zeit hat eben erst angefangen.
Quelle: „Der Anfang“ (Schluss), (30. November 1918) Arbeiterpolitik 1918 Nr. 48. Nach A.A.A.P.
Anton Pannekoek „Die neue Welt” 1/2
„Der vierjährige Weltkrieg hat das Wesen der Welt aufs Tiefste umgewälzt. Eine neue Welt liegt um uns. Aber die Wenigsten haben sich klargemacht, was sich alles geändert hat.
Die proletarische Weltrevolution hat begonnen. Das sieht und weiß jeder. Die Bourgeoisie sieht oder ahnt es mit Schrecken, sie versucht, noch zu retten, was zu retten ist und mit aller Macht die alte Herrschaft zu behalten oder wiederaufzurichten. Die Vorhut des Proletariats nimmt begeistert den Kampf auf, und die große Masse der Arbeitenden setzt sich in Bewegung, ohne noch klar zu sehen, aber doch herausfühlend, daß jetzt ihre Zeit kommt. Die Revolution der Arbeiter ist im Gange und wird weitergehen. Aber die Verhältnisse, unter denen sie stattfindet, sind neu und ganz anders als vor dem Krieg. Und hier liegt der Irrtum vieler der früheren Sozialdemokraten, die glauben, noch in der alten Welt zu leben, und deshalb nicht sehen, wie ganz anders, als sie es immer gedacht haben, die Bedingungen des Kampfes jetzt sind. Sie halten fest an die alten Losungen, das alte Programm, sie rühmen, daß sie die Alten geblieben sind und führen damit die Arbeiter, die ihnen noch folgen, auf falsche Spuren. Daher ist es nötig, die neue Welt, innerhalb deren die proletarische Revolution vor sich gehen wird, genau zu betrachten.
Der Weltkrieg hat die Welt international gemacht — das ist seine erste große Wirkung.
Der Kapitalismus schuf die Nationalstaaten, die großen politischen Einheiten der Bourgeoisie, die sich scharf gegeneinander absonderten, aber in ihrem Innern stets mehr die Gegensätze und Unterschiede in Volksart, Sitten, Anschauungen, Rechten aufhoben. Jeder Staat war selbstherrlich, souverän den andern gegenüber; keiner duldete eine Einmischung der andern in seine inneren Verhältnisse; jede schloß Verträge und Bündnisse mit den anderen nach freiem Belieben. Als bewaffnete Kampforganisationen der Bourgeoisie standen sie neben- und gegeneinander und verfochten in Kriegen ihre gegenseitigen Interessen. Die Folge davon war, daß alle weiteren Beziehungen der Menschen sich innerhalb der Staatsgrenzen abspielten. Die Gesetzgebung war eine innerstaatliche Angelegenheit. Der Klassenkampf wurde auf nationalem Boden geführt, als Kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariats desselben Landes. Allerdings fanden Beeinflussungen von jenseits der Grenzen statt: auf internationalen Kongressen wurde beraten und wurden Resolutionen abgefaßt; aber das war nur nebenbei. Jede Partei war im eigenen Lande souverän; jede Arbeiterklasse sollte, wie es hieß, mit ihrer eigenen Bourgeoisie abrechnen.
Der Imperialismus brachte zunächst die Staatenbündnisse, die sich schließlich zu zwei großen feindlichen Koalitionen krystallisierten. Im Kriege wurde die eine dieser Koalitionen zerschmettert. Die siegreiche Koalition hat keine Gegner mehr. Die Besiegten sind teilweise in kleineren Nationen aufgelöst, die in ihrer Not sich bettelnd an die Sieger anschließen; die Neutralen müssen sich gleichfalls den Siegern fügen. Die Koalition erweitert sich zum Völkerbund. Der Wilsonsche Völkerbund ist schließlich nur die Erweiterung der Entente, durch Aufnahme der neutralen und besiegten Staatenreste. In diesem Völkerbund ist von der alten Souveränität und Unabhängigkeit der alten Staaten wenig übriggeblieben. Auch die führenden Staaten, England und Amerika stehen in ihrer inneren Politik; nicht mehr unabhängig; die Anleihen und Kriegslieferungen, die Entscheidungen des obersten Kriegsrates über ihre Politik haben tief eingewirkt; und in noch viel höherem Maße sind Frankreich und Italien von ihnen abhängig. Ihre innere Politik können diese Staaten nicht mehr machen, wie sie wollen. Und noch vielmehr gilt das von den schwächeren und besiegten Ländern. England, Amerika, Japan können noch einen starken autonomen Sinn bewahren, weil sie Sieger, Herrscher der Welt sind, sie können sogar einen neuen Streit miteinander anfangen. Aber alle jene andre sind nur der äußeren Form nach selbständige Staaten. Wenn der Völkerbund theoretisch festlegt, was schon Praxis ist, dürfen sie keine Verträge miteinander schließen und keine stehende Armee halten.
Die führende Gewalt wird auch genau darauf achten, daß sie in ihrem Inneren sich so benehmen, wie es ihr nötig erscheint.
Die scharfe Absonderung der Staaten ist verschwunden, aber umso schärfer geht durch sie alle der Riß zwischen Proletariat und Ausbeutertum. Als eine internationale Einheit steht die Bourgeoisie aller Länder vereint gegen das Proletariat aller Länder. Nicht bloß theoretisch, durch Sympathie, sondern praktisch, durch Taten. Im Jahre 1871 hielt Bismarck sich noch außer den Kämpfen zwischen Kommune und Versailles und unterstützte letztere bloß indirekt und moralisch. In Jahre 1918 ziehen die Armeen der Entente in Rußland ein, um dort die Bourgeoisie, die Generäle, die Adligen, die Knutenleute zur Herrschaft zu bringen. Es ist kein Krieg von England und Frankreich gegen Rußland, sondern ein Krieg der Bourgeoisie gegen das revolutionäre Proletariat, ein Krieg des Kapitals gegen den Sozialismus. Wer jetzt nur die Verhältnisse im eigenen Lande sieht, übersieht das allerwichtigste. Die deutschen Proletarier haben zu bedenken, daß dort in den Steppen der Ukraine das Schicksal des deutschen Sozialismus mit entschieden wird, ähnlich wie von ihrem Kampf in den Straßen Berlins und Hamburgs die Zukunft der Sowjetrepublik abhängt. Das revolutionäre Proletariat aller Länder bildet eine einzige Masse, eine einzige Armee, und wenn es das nicht weiß und nicht aktiv betätigt, wird es als eine zusammengehörige, aber zersplitterte Armee, abteilungsweise zerschmettert werden. Nichts hat das deutsche Proletariat zu gewinnen, wenn es sich absondert, aus Furcht durch Hilfe der russischen Revolutionären die Feindschaft der Ententebourgeoisie zu wecken.
Es wird dann, sobald es sich selbst befreien will, isoliert angegriffen werden. Es hat einzusehen, daß es jetzt nur mehr eine Schlachtfront in der Welt gibt: Kapital gegen Proletariat; es steht, ob es will oder nicht will, in einer Front mit dem russischen Volke und durch seinen Kampf unterstützt es seine Kameraden überall: in Rußland, wo sie sich schon befreiten, in Schottland, in Amerika, in Frankreich, wo sie erst emporkommen. Gegen die Internationale des Kapitals, dem Wilsonschen Völkerbund, steht die Internationale der Arbeit, der Kommunismus, und sammelt sich und wächst empor.
Anton Pannekoek „Die neue Welt” 2/2
„Der Weltkrieg hat die Welt verwüstet und sie in die tiefste Armut, zu einem Chaos heruntergedrückt: das ist seine zweite große Wirkung. Vier Jahre lang sind alle Produktionskräfte in den Dienst des Krieges gestellt. Das bedeutet, daß alle Rohmaterialien, alle Maschinen, alle Verkehrsmittel und alle menschliche Arbeitskraft unproduktiv vergeudet wurden. Sie wurden benutzt für den Zwecke der Zerstörung, sie wurden verbraucht, um nichts zu erzeugen, sondern um den Feind niederzuwerfen. Die Folge mußte ein absoluter Mangel sein an alles, was die Gesellschaft zu ihrem Weiterbestehen braucht. Daß dies vier Jahre lang so weitergehen konnte, war nur möglich, weil in diesen vier Jahren die Lebenshaltung der Massen auf das Mindestmögliche heruntergedrückt wurde: was für den Krieg produziert wurde, wurde für ihren Lebensbedarf weniger produziert. Das konnte aber nur einen Teil der Kriegsverschwendung begleichen; daneben kommt die Verwahrlosung aller Produktions- und Verkehrsmittel; statt sie zu erneuern, wurden sie aufgebraucht. So steht man am Ende des Krieges vor einer völligen Zerüttung des ökonomischen Lebens: es fehlt an Produktionsmittel, an Rohstoffe, an Arbeitskräfte; denn die Menschen sind körperlich geschwächt durch die lange Entbehrung. Allerdings könnte man dem entgegenhalten, daß doch das Kapital sich gewaltig vermehrt und konzentriert hat. Aber dieses Kapital besteht vor allem im Rechtstitel, nicht in produktivem Kapital. Es ist Eigentum an Fabriken, die nicht die Möglichkeit haben, sofort weiter zu produzieren; es ist vor allem Staatsschuld, also Anspruch auf riesigen Zinsenmassen, die von dem Proletariat und den Kleinbürgern und Bauern in der Gestalt von Steuern den Kapitalisten gezahlt werden müssen. Die Kapitalsvermehrung bedingt die Verteilung der Produkte — sie besagt, daß die erzeugten Produkte möglichst ungerecht verteilt werden — aber vermehrt nicht die Produktion. Die Bereicherung der Großen bedeutet, daß die Vampyre die allgemeine Armut noch vermehren werden, indem sie für sich den größten Teil der dürftigen Vorräte beschlagnahmen wollen. Nein, wirtschaftlich betrachtet steht die Welt schon vor einem ungeheuren Bankrott, vor einer leeren Wüste, vor einem ökonomischen Chaos.
Das gilt mehr oder weniger für alle Länder; für solche Länder, wie Japan und Amerika am wenigsten, aber für Zentraleuropa — wie zuvor für Rußland — am allermeisten. Deutschland hat mehr als England seine wirtschaftlichen Hilfsmittel bis zum letzten Tropfen für den Krieg aufgebraucht — wie ganz anders hätte es dagestanden, wenn die Arbeiter schon im vergangenen Februar Revolution gemacht hätten! — Und weil es besiegt ist, werden ihm jetzt die letzten Reste seines Besitzes genommen. Die Gegner wollen um jeden Preis verhindern, daß es sich noch einmal als Kapitalmacht aufrichten könnte. Nach den Reden der englischen Minister ist nicht daran zu zweifeln, daß Deutschland an Kriegsentschädigung alles zu bezahlen haben wird, was es besitzt, so daß es völlig ausgeplündert und besitzlos dastehen wird. Das Gold, das nötig wäre, um im Auslande zu kaufen und damit die Produktion in Gang zu bringen, hat der Sieger genommen; von ausländischen Rohstoffen ist Deutschland abgeschnitten; fremde Märkte sind ihm verschlossen; die wichtigsten Eisen- und Kohlenreviere, Lothringen, das Saargebiet, das schlesische Becken sind oder werden werden von ihm abgetrennt; von den vorhandenen Transportmitteln oder Maschinen wird ein bedeutender Teil abgeliefert werden — zur Neubelebung einer kapitalistischen Produktion fehlt alles. Das Kapital kann seinen bisherigen Arbeitssklaven keinen Lebensunterhalt mehr geben — furchtbare Arbeitslosigkeit grinst dem Proletariat entgegen. Denn das Kapital ist selbst nichts mehr. Die gewaltige industrielle Entwicklung Deutschlands im vergangenen halben Jahrhundert ist mit einem Male abgeschnitten. Deutschland ist durch diesen Krieg — ähnlich wie durch den dreißigjährigen Krieg — auf eine viel niedrige Stufe wirtschaftlicher Entwicklung zurückgeworfen. Wie im ganzen Zentraleuropa wird es mit einer primitiven Stufe der Agrarwirtschaft wieder anfangen müssen und es wird Jahrzehnte dauern, bis es wieder einigermaßen zu einer höheren Entwicklung emporsteigen kann. Das sind die Aussichten, wenn die bürgerliche Produktion bestehen bleibt, also die Bourgeoisie die Staatsgewalt in den Händen behält.
Und für die nächste Zeit sind die Aussichten noch schlimmer. Die Lebensmittel und die Transportmittel zu ihrer Verteilung sind in so geringem Maße vorhanden, daß nur die strengste Handhabung peinlichster Vorschriften durch eine starke Regierung es ermöglichen wird, daß man mit dem nackten Leben davonkommt. Solange die vorläufige Ebertregierung fortwurstelt, die beiden Klassen Rechnung tragen will, geschieht nichts und wird also nur ein schlimmster Zusammenbruch vorbereitet. Eine starke Regierung kann nur eine Klassenregierung sein; entweder eine offene Bourgeoisregierung, die über so große Gewaltmittel verfügt, daß sie die Proletarier durch eine Minimalrationierung gerade am Rande des Hungertodes vorbeiführt und sie schonungslos niederhält — so wie es die vorige Regierung während des Krieges machte —; oder eine wirklich proletarische Regierung, die schonungslos alle Vorräte und Vorrechte der Bourgeoisie antastet und alles, was vorhanden oder zu beschaffen ist, für die Massen bestimmt und ehrlich verteilt.
Der Kapitalismus hat dem Proletariat nichts mehr zu bieten. Die Not zwingt dem Proletariat den Sozialismus auf.
In der Zeit vor dem Kriege konnte der Kapitalismus den Arbeitern etwas bieten: eine, wenn auch nicht sichere, so doch ziemlich ruhige, dürftige Existenz; und dem gegenüber standen die unsicheren Wirrnisse einer Revolution, die den hochentwickelten Produktionsprozeß stören und lähmen würden. Daher wagte die Masse des Proletariats die Revolution nicht; sie war zufrieden und wiegte sich in dem Wahn, es würde weiterhin so bleiben. Der Sozialismus erschien wie ein Sprung in das Nichts, in die Leere, in den Chaos. Jetzt steht die Welt in dem Chaos, in dem Nichts. Der Kapitalismus kann keine ruhige Existenz, keine friedliche Arbeit mehr geben. Das Volk steht vor der Wahl: entweder die Leitung der Welt in den unfähigen Händen zu belassen, die diesen Chaos verschuldet, der Bourgeoisie, der, Bürokratie, der Ebertleute, und dann zu Grunde zu gehen, während diese ihr Ausbeutungssystem hinüberretten — oder selbst die Leitung in die Hände zu nehmen und selbst die Produktion in Gang zu bringen. Im ersten Fall wird die Produktion mühsam, schwer emporkommen, da Kapitalmangel und Gewinninteressen sie hemmen, und der Ertrag wird der Neubildung von Kapital dienen; im zweiten Fall wird sie energisch in Betrieb gesetzt werden als Selbstversorgung des ganzen arbeitenden Volkes. Die Wahl wird sich mit zwingender Gewalt vollziehen. Nicht aus klarer Einsicht, nicht aus theoretischer Überlegung seiner Vortrefflichkeit, sondern aus unmittelbarer Not werden die Arbeiter den Sozialismus durchführen müssen.
Ebert oder ein anderer hat gesagt, diese Zeit der Not sei nicht geeignet, Theorie zu verwirklichen. Der Sozialismus war diesen Leuten immer nur eine abstrakte Theorie statt einer praktischen Lebensnotwendigkeit für die Arbeiter. Sie träumten, wie so viele, von einem Idealkapitalismus, in dem eine einsichtsvolle sozialdemokratische Parlamentsmehrheit —eine friedliche Umwälzung durchführen sollte, inmitten von Produktionsüberfluß und Wohlfahrt. Aber die Wirklichkeit ist anders: der Sozialismus muß kommen als Retter in der furchtbarsten Not, als die einzige Möglichkeit für die Massen, sich vor dem völligen Untergang zu retten. Und er wird der Retter sein. Ohne den Sozialismus wäre das Volk im bankerotten Rußland völlig dem Hunger, dem Untergang ganz verfallen; die Anfänge des Sozialismus haben die Volksmassen durch die schlimmste Zeit hindurch gerettet, sie ökonomisch gekräftigt, trotz der Angriffe von innen und außen, die die Lebensmittelversorgung aufs Schwerste gefährdeten. Der Sozialismus wird auch in Deutschland und den anderen zentraleuropäischen Ländern die Massen durch planvolle, aber streng durchgeführte Organisation der Produktion und Lebensmittelversorgung durch die schlimme Zeit hindurch retten, aber damit zugleich den Keim der neuen Produktionsweise, den Keim der neuen Freiheit legen.
Marx sagte im Jahre 1847 den Proletariern: Ihr habt nichts zu verlieren als Eure Ketten. Vor einem Jahrzehnt sagten Vertreter der Arbeiter in Abwehr gegen den Marxismus: Die Arbeiter haben jetzt etwas zu verlieren, also keine Revolution. In der Tat: solange die Arbeiter, in Zeiten der Prosperität, fühlten oder glaubten, etwas zu verlieren haben, hörten sie nicht auf Marx, verhallte sein Wort. Jetzt wird es wieder zur Wahrheit. Alles, was der Kapitalismus bieten konnte, wirklich oder im Scheine, ist verloren. Nichts haben die Arbeiter mehr zu verlieren. Von allem beraubt, nackt und kahl stehen sie in der Wildnis — vor den Toren der Zukunft. Sie haben eine Welt zu gewinnen.
Quelle: „Die neue Welt” in Arbeiterpolitik, 28. Dezember 1918, 4. Januar 1919. Nach Marxists’ Internet Archive
Transkription von „Der Anfang“, und kleinere sprachliche Korrekturen im Gesamttext: Fredo Corvo
F.C. Anmerkung zur ‚Doppelrevolution‘
Pannekoek nennt in diesen drei Texte die deutsche Novemberrevolution in Nachfolge der russischen Revolution von 1905 eine bürgerliche Revolution, mit proletarischen Mitteln vom Proletariat durchgeführt. Anfangs des 20. Jahrhunderts übernahmen — soweit mir bekannt — alle revolutionäre Marxisten diese Theorie des Kommunistischen Manifestes von 1848. Ohne diess in Frage zu stellen, minimalisiert Pannekoek aber in bemerkenswerter Weise die Bedeutung dieser „bürgerlichen“ Revolution und der „nationalen Selbstständigkeit“ der osteuropäischen Kleinstaaten für das internationale Proletariat. Jetzt ist klar daß die Revolution von 1848 Deutschland nicht mal die bürgerliche Herrschaft brachte, die Russische Revolution von 1905 nur formell die Agrarsklaven befreite. Die sogenannte ‚bürgerliche‘ Revolution von Februar 1917 wurde von der russischen Bourgeoisie benutzt um den Weltkrieg weiterzuführen. Die Oktoberrevolution 1917 brachte die Bolschewisten am Lenkkrad eines vom Zarismus vererbten Staatskapitalismus. In ihrer internationalen Isolation und bei inneren theoretischen Schwächen (u.A. die ‚Doppel-‚ oder ‚permanente Revolution‘) konnten sie schließlich sogar nicht die historisch überholten Aufgaben der bürgerlichen Revolution erfüllen. Während Jahrzehnten an Stagnation der Landwirtschaft wurden Millionen Bauern ausgerottet oder verhungerten. Die fast totale revolutionäre Arbeiterschaft, einschliesslich ihrer eigenen Parteigenossen, wurden in grausamen ‘roten’ Terror ermordet. Wass aber schon gelang, war die russische Teilnahme an den interimperialistischen Kriegen zur Umverteilung der Welt. Wer daher heute, nach mehr als hundert Jahren Imperialismus, noch spricht von „bürgerlichen Revolutionen“ und „nationaler Befreiung“, zeigt damit nicht verstanden zu haben daß in dieser Epoche nur die proletarische Weltrevolution auf der Tagesordnung der Geschichte steht: ‘Sozialismus oder Barbarei‘.