Folgender Text erschien in 1932 in der internationalen Pressekorrespondenz INO (und in Pressedienst der Internationalen Kommunisten Holland) als anonymer Beitrag von Anton Pannekoek zur Diskussion anlässlich der Entstehung der Kommunistischen Arbeiter Unions Deutschlands (KAUD). Historisch überholt von dem Niedergang der Überreste der KAPD und der Arbeiter Unionen, wie der revolutionären Bewegung der Arbeiter aus denen diese Organisationen hervorgekommen waren, enthält der Text doch viele theoretische Konzepte die vom Nutzen sind in eine heutige Diskussion zur Frage der Partei. In anderen historischen Umständen müssen die alten Fragen die Pannekoek sich hier stellt neu überdacht und überwogen werden. Das gilt noch mehr zur Spekulation Pannekoeks dass die Parteien nach der Revolution verschiedene Interessen innerhalb der Arbeiterklasse zum Ausdruck bringen könnten.
1. Die Partei als Kerngruppe
Unter den Gruppen, die die Räteorganisation als das Organ der Arbeiterklasse für die proletarische Revolution betrachten und die Taktik des Parlamentarismus und der Gewerkschaftsbewegung für veraltet und unzweckmäßig halten, bestehen noch bedeutende Differenzen, namentlich in der Frage der Partei. Welche Ansicht jetzt dabei die Mehrheit findet, ist gleichgültig. Wir leben in einer Zeit rascher Umbildung der Anschauungen, wir wissen, wie oft Bewegungen, die als bedeutungslose Grüppchen anfingen, nachher die Welt eroberten, und das, weil ihre Prinzipien richtig und zeitgemäß waren. Es handelt sich also darum, die Prinzipien zu prüfen, und nicht die Anhänger einer Gruppe zu zählen.
Zuerst ist notwendig festzustellen, was unter einer Partei zu verstehen ist. Die eigentlichen älteren Parteien, die SP und auch die KP, sind politische Parteien, die sich vor allem mit der parlamentarischen Aktion beschäftigen. Nach ihrem Programm wollen sie die politische Macht erobern, und dann an Stelle der anderen bürgerlichen Parteien mittels des Staatsapparates regieren. Die politisch-parlamentarische Tätigkeit steht im Mittelpunkt, alle weitere Aktion ist dem neben- oder untergeordnet. Für die revolutionären Parteien wie die KAP, die von dem Parlamentarismus nichts wissen wollen, fällt dies fort. Aber jene zuvor genannten Parteien hatten ihre bestimmten Prinzipien und Programme und ein bestimmtes Ziel. So hat auch eine revolutionäre Partei bestimmte Prinzipien und Grundanschauungen, mittels derer sie den Klassenkampf des Proletariats auf ein bestimmtes Ziel richten will. Eine solche Partei kann immer nur eine Kerngruppe sein, nicht die Arbeiterklasse selbst. Sie kann nur solche Elemente umfassen, für die die Prinzipien feste Überzeugungen sind, die sie sich auf dem Boden einer breiteren Einsicht und wissenschaftlicher Kenntnisse erworben haben. Daß dieses Wissen hauptsächlich auf dem Boden des Marxismus steht, ist selbstverständlich, will aber noch nicht viel sagen, da auch die KP und sogar die SP, sei es auch mit Einschränkungen, sich auf den Marxismus berufen.
Die Partei – so lautet die These der ihr Angehörenden – ist notwendig als die Organisation der entwickeltsten, bewußtesten, am klarsten denkenden Arbeiter, die den Massen den richtigen Weg des Kampfes zeigen und darin vorangehen, die die Prinzipien und die Taktik ausarbeiten, und die an dem revolutionären Prinzip festhalten im Auf- und Niedergang der Bewegung. In jeder großen Klassenbewegung treten zuerst immer nur Wenige, nur kleine Gruppen und Minoritäten auf, die aktivsten und flihigsten Elemente gehen voran und werden zu Führern, wenn nachher die Massen folgen. Diese Massen, ohne Erfahrung, mü.ten alle Irrgänge und Illusionen aufs neue durchmachen, wenn nicht die bessere Einsicht und die Erfahrung der Kerngruppe da wäre, um den Weg zu kürzen. Die Partei bildet, in dieser Auffassung, gleichsam das Gehirn der Klasse; in der Parteidiskussion beraten ihre besten Köpfe über die zu befolgende Taktik und andere Fragen; sie besorgt die zur Aufklärung der Massen nötige Literatur, und sie bleibt fest, wenn die Massen in die Passivität zurückfallen.
Hier war die Rede über den Gegensatz zwischen Partei und Klasse. In der Praxis handelt es sich aber noch um einen anderen Gegensatz. Ein bedeutender Teil der Klasse trat in den Kampf für unmittelbare Reformen, ohne sich zur Partei zu bekennen. Es bestand also eine Zwischenorganisation, kleiner und entwickelter als die Klasse als Ganzes, größer und weniger zielklar als die Partei. So standen die Gewerkschaften zur sozialdemokratischen Partei. Da hatte nun die Partei wieder die Aufgabe, führend und richtunggebend aufzutreten, auf dem Boden des sozialistischen Prinzips. Dabei traten nun Widerstände und Reibungen auf, weil sich die Gewerkschaftsorganisation selbst als eine Kerngruppe betrachtete, die noch größere und weniger bewußte Massen zu gewinnen und zu führen hoffte. Sie glaubte, dazu umso besser fähig zu sein, umso weniger sie mit sozialistischen Prinzipien belastet war und umso ausschließlicher sie sich nur auf Reformen innerhalb des Kapitalismus richtete.
Aus den Revolutionsjahren blieben nun die KAP als Partei und die AAU als eine breitere Organisation übrig. Letztere war, als Zusammenfassung von Betriebsorganisationen, eine Zusammenfassung nach Klassengliederung, nicht nach kommunistischen Prinzipien. So mußte das gleiche Verhältnis entstehen, wie oben gezeigt. Die Partei als die theoretisch durchgebildete Kerngruppe, sich auf das kommunistische Prinzip stützend, sah es als ihre Aufgabe an, die weniger geschulten, nur durch Klassenempfinden und Kampfwillen getriebenen Massen der größeren Union zu führen und gegen Irrgänge zu hüten.
Dies alles – ist die These der im Einheitsprogramm der Union vertretenen Richtung – oder fast alles erkennen wir als richtig an. Auch für uns gilt die Notwendigkeit einer richtunggebenden prinzipienklaren Kerngruppe. Aber diese Kerngruppe wollen wir selbst sein. Die AAU ist nun einmal nicht zu einer Massenorganisation angewachsen, sondern umgekehrt zu einer kleinen Gruppe zusammengeschrumpft. Die Union selbst ist klein genug, um eine prinzipienfeste Kerngruppe zu sein, sie bestand schon fast ausschließlich aus geschulten Kommunisten, sie braucht keine Partei als Berater neben sich. Eine Partei selbst, soweit sie eine antiparlamentarische prinzipielle Kerngruppe sein will, hat keine andere Funktion als die Union, nämlich: Aktion zur Aufklärung, Diskussion über Streitpunkte, Feststellung von Richtlinien u.s.w. Also besteht hier nichts anderes als ein Namensunterschied.
Stellen wir nun die Frage: hätte man die Union nicht als Sammelbecken für eine künftige revolutionäre Massenorganisation offen halten sollen? Wenn das Bedürfnis nach einer solchen Organisation entsteht, wird sie sich bilden, gleichgültig unter welchem Namen. Es ist aber wenig wahrscheinlich, daß sie sich durch einen Massenübertritt zur Union bilden würde. Wenn durch den Stoß großer Ereignisse revolutionäre Spannungen und Bewegungen entstehen, die die Arbeiter massenhaft in den Kampf treiben, so wird das eher zur Bildung neuer Organisationen als zum Anschluß an die alten führen. Die bestehenden Gruppen sind alle mit einer gewissen Tradition belastet, mit formulierten Programmen, die die eben erwachenden Massen noch nicht verstehen. Diese Massen wollen kämpfen, ohne sich an ein bestimmtes Programm zu binden, oder an eine bestehende Gruppe anzuschließen. Denn in diesen Gruppen sind die traditionellen Spaltungen und Gegensätze verkörpert, sie wollen dagegen ihre neue Einheit demonstrieren. Deshalb wird man vielmehr auf das Aufkommen neuer, als mit dem Wachstum alter Organisationen rechnen müssen.
Das Verhältnis der kommunistischen Kerngruppe zu einer solchen größeren Organisation, wenn sie sich bildet, wird auch nicht mit dem alten Verhältnis zwischen Partei und Gewerkschaft übereinstimmen können. Die Gewerkschaft war nur auf Verbesserungen innerhalb des Kapitalismus eingestellt, die neue Organisation wird dagegen auf den revolutionären Kampf eingestellt sein müssen. Dort mußte das unvollkommene, unprinzipielle, auf beschränkte Ziele Gerichtet sein des Kampfes zu einer bleibenden Rückständigkeit erstarren; hier kann es nur ein Übergangszustand in der revolutionären Selbstentwicklung der Massen sein. In Zeiten revolutionärer Entwicklung kann die Unklarheit der Ziele, das Fehlen einer klaren kommunistischen Überzeugung zwar eine unvermeidliche zeitweilige Tatsache sein, aber nicht das feste Programm einer bleibenden großen Organisation.
Natürlich findet in diesen Massen die Entwicklung nicht einförmig und gleichmäßig statt. Überall in den Betrieben werden Minoritäten hervortreten, bestehend aus den aktivsten und kampffähigsten Leuten, deren Initiative die Gesamtheit vorwärts treibt. Aber wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, daß diese aus dem Kampf selbst emporkommenden breiteren Gruppen eine besonders an die Union anschließende oder mit ihr verbundene Zwischenorganisation bilden werden, und noch weniger, daß sie von der Union schon im voraus gegründet werden könnten. Sie werden sich aus den verschiedensten der heutigen Organisationen rekrutieren. Wir wissen, daß diejenigen, die sich im Feuer des praktischen Kampfes erheben und hervorragen, oft ganz andere sind als die, die schon in der Vorbereitung voranstehen. Wenn nun die Union auf sie einwirkt und Einfluß ausübt, so in derselben Weise, wie die Union auf die ganze Klasse einwirkt.
Wenn wir über die Notwendigkeit einer Kerngruppe, einer Vorhut reden, so ist dabei also nicht der Gegensatz zu einer größeren Zwischenorganisation, sondern zu der ganzen Klasse gemeint. Der revolutionäre Kampf für die Befreiung kann nur von der Klasse als Ganzes, in ihrer natürlichen Gliederung nach Betrieben geführt werden. Für sie gilt, daß sie ohne klaren Weitblick, durch Notwendigkeit und Not getrieben, in den Kampf tritt. Die Vorhut versucht ihr die Erfahrung und die von vorhergehenden Kämpfergenerationen gewonnene Einsicht zu übermitteln. Oft sind, durch die entgegengesetzten Losungen verwirrt, die erwachenden Massen daran, falsche Wege einzuschlagen; die Kerngruppe versucht ihr Klassenempfinden und ihr revolutionäres Interesse klar herauszuschälen und bewußt zu machen. In Niedergang und Niederlage kann die Massenbewegung zurückebben, die kommunistische Gruppe sucht dann die besten Kräfte zusammenzuhalten.
Über die Anerkennung der Notwendigkeit einer prinzipiellen, marxistisch geschulten Kerngruppe sind wir also einig, sie mag Partei oder anders heißen. Eine Differenz liegt nur darin, daß wir für revolutionäre Zeiten nicht der Ansicht sind, daß neben ihr eine mit ihr verbundene, zu ihr gehörende massenhafte nicht-kommunistische Kämpferorganisation stehen muß; und vor allem darin, daß nach unserer Auffassung die kämpfende Masse, innerhalb der die Vorhut auftritt und wirkt, die Arbeiterklasse als Ganzes, in ihrer Betriebsgliederung sein wird.
2. Die Partei als Führerin der Klasse
Es handelt sich aber doch um mehr als nur um einen Namensunterschied. Es steckt in jedem Namen ein Stück Tradition, und als solcher ist er der Ausdruck bestimmter Organisationsformen und bestimmter Zielsetzung.
Zum Wesen der Partei gehört eine kräftige zentrale Führung, damit eine möglichst vollkommene Einheit des Handeins gesichert wird. Die Partei bildet eine geschlossene Organisation, deren Mitglieder, von denselben Prinzipien ausgehend, in hohem Maße gleich denken, und durch eine kräftige Disziplin an die von der Partei beschlossene Taktik gebunden sind. Die Taktik der Partei, die ihr Handeln bestimmt, wird mittels einer gründlichen Diskussion sorgfältig festgelegt in der Überzeugung, daß von ihr die Zukunft der Arbeiterbewegung abhängt. Das wäre nicht nötig, wenn die Partei nur ein Propagandaverein wäre; wenn es sich darum handeln würde, den Massen klare Einsicht zu bringen, würde die große Verschiedenheit der ihnen vorgelegten Ansichten eher dazu führen, sie zu eigenem kritischem Denken anzuregen, als die Darlegung nur des scharf umrissenen Parteistandpunktes. Verständlich wird dies aber, wenn die Partei die Massen nicht bloß aufklären, sondern auch führen will. Um die Massen richtig zu führen, nicht in den Sumpf und nicht in den Putsch, müssen die klarsten Köpfe der Partei scharf die Taktik ausarbeiten, der die Partei zu folgen hat. Weiter ist es dann nötig, daß die Massen ihr mit Überzeugung folgen, daß sie klar die Richtigkeit ihres Weges erkennen und sich nicht durch die Vielheit der entgegengesetzten Meinungen in Verwirrung bringen lassen.
Während nun die parlamentarische Partei die Massen gewinnen und führen will im Alltagskampf um parlamentarische Fragen, sucht die revolutionäre Partei sie zu gewinnen und zu führen in der Revolution. Für erstere ist die bürgerliche Wahlrechtsdemokratie das Organ dieser Massen, für die letztere bilden die revolutionären Arbeiterräte dieses Organ. Aber das Verhältnis der Partei zur Masse trägt in beiden Fällen denselben Charakter.
Für diese Auffassung sind selbstverständlich gewichtige Argumente anzuführen. Man darf sich keinerlei Illusionen über die Reife und die Einsicht der proletarischen Massen hingeben. Wenn diese in den Kampf eintreten, zögernd und unsicher, ist eine kräftige Führung notwendig. Im November 1918 wählten die Massen in Deutschland als „Arbeiterräte“ die sozialdemokratischen Führer, damit waren sie der bürgerlichen Demokratie ausgeliefert. Wenn damals eine kräftige revolutionäre Partei vorhanden gewesen wäre, wäre es anders gekommen! Man kann dem entgegenhalten, daß die gewählten Arbeiterräte doch immer zu entscheiden haben. Soll aber eine revolutionäre Partei, ohne einzugreifen, beiseite stehen, ehrfurchtsvoll der „Mehrheit“ der Arbeiterräte gehorchend, wenn diese aus Unfähigkeit den Kampf verpfuschen? Die Partei muß dann eingreifen, muß führen, um die Revolution zu retten. Die Geschichte zeigt uns, daß es immer die tatkräftigen Minoritäten waren, die für die passive Klassenmehrheit den Sieg erkämpften oder festhielten. ,,Nicht die Arbeiterräte, sondern die bolschewistische Partei hat die russische Revolution gemacht“, schrieb noch neulich die „Kommunistische Arbeiter Zeitung“ als Illustration dieser These. Das Resultat war dann auch, daß die bolschewistische Partei die Macht in die Hände nahm. Zuerst wurden die Arbeiterräte, die Sowjets, noch einige Male zusammenberufen um den Regierungstaten ihre Sanktion zu geben, aber nachher immer weniger.
Nun muß zuerst bemerkt werden, daß in jener Vorstellung der ,,Mehrheit“ der Arbeiterräte diese Organe der Revolution wohl zu sehr parlamentarisiert werden. In den großen entscheidenden Kämpfen der Weltgeschichte handelt es sich nie um ein einfaches Abzählen der Stimmen; es handelt sich immer um Macht gegen Macht. Nicht war da jede Person eine gleichwertige Nummer, sondern jede war eine verschiedene Kraft. In solchen Kämpfen gelten die Entschlossenheit, die Fähigkeit, die Energie der Individuen; da reißen die Feurigen die Zaghaften mit sich, da gewinnen begeisterte Minoritäten den Sieg über zögernde Mehrheiten, dort spielen wirtschaftliche Machtpositionen oft eine bedeutende Rolle. Man mag dies als undemokratisch ablehnen, aber was soll das? Die gesellschaftlichen Stürme fallen gerade so wie die Naturstürme außerhalb der moralischen Beurteilung. Es wäre noch dazu ein falscher Demokratismus, denn in der großen historischen Aufgabe des Proletariats hat jeder nach seinen Kräften beizutragen, also die Stärksten das Meiste. Wenn daher in kritischen entscheidenden Augenblicken eine begeisterte Vorhut in die Bresche springt, eine drohende Niederlage abwendet, oder einen Gewinn sichert, so ist wohl klar, daß dies keine Verletzung des gleichen Rechtes für alle ist.
Aber auch bei der Abstimmung selbst kommen reale Kräftefaktoren und Machtverhältnisse zum Ausdruck. Wie oft stimmten in bewegten Zeiten Parlamentarier gegen ihre eigene Überzeugung, unter dem Druck der „Straße“. Wenn in revolutionären Zeit Arbeiterräte abstimmen, kommt in der Gesamtheit der treibenden Kräfte zum Ausdruck, was in den Massen und dem Einzelnen lebt. Auch dabei kann sich jede Person geltend machen.
Es ist also keine ängstliche Sorge um die formelle Demokratie, wenn wir die These der Führung durch die Partei ablehnen, sondern es ist die Erkenntnis, daß die Arbeiterklasse nicht befreit werden kann, sondern sich selbst befreien muß. Für die Befreiung des Proletariats genügt es nicht, daß eine Minderheit aus dem Proletariat emporkommt und an Stelle der Bourgeoisie die Herrschaft in die Hand nimmt, um sie im Interesse des Proletariats anzuwenden. Sie würde nachher ein Hemmnis auf dem Wege der völligen Befreiung sein.
Jede Taktik, die sich auf die augenblickliche Unfähigkeit und Unreife des Proletariats gründet, ist von Übel, weil sie für den augenblicklichen Erfolg die Grundlagen und Bedingungen einer bleibenden Klassenmacht vernachlässigt. Eine Taktik, die auf der Unterscheidung einer zur Führung berufenen Partei und der ihr folgenden geführten Masse beruht, ist aus zwei Gründen zu verwerfen. Erstens, weil in dieser Weise nicht alle im Proletariat liegenden Kräfte zur Entwicklung kommen. Wenn andere für das Proletariat denken und handeln, wenn es nicht selbst in seiner Gesamtheit zu der allergrößten Anspannung aller geistigen und moraiischen Kräfte genötigt wird, wird es nie zu der allerhöchsten Selbstentfaltung kommen, die das Wesen, das Ziel, und zugleich die Sicherung der Revolution ist.
Wenn das Proletariat glaubt, einen einfacheren Weg zu sehen als den einzig richtigen schwierigen Weg der Selbstbefreiung, versucht es ihn zu nehmen. Es stützt sich auf die persönlichen Qualitäten der Führer, es folgt vertrauensvoll der Führung einer Partei, die ja in kleinen Fragen oft Erfolge hatte. Aber es wird enttäuscht werden. Und zwar weil – und dies ist der zweite Grund – eine Partei, mag sie noch so groß und vortrefflich organisiert sein, die Bourgeoisie nicht besiegen kann. Das kann nur das Proletariat selbst.
Die Wortführer der Partei, die sich durch ihre Einsicht über die unwissenden und passiven Massen erhaben fühlen, unterschätzen immer die Macht der Bourgeoisie. Diese Macht ist gewaltig, erstens durch den Riesenbesitz dieser Klasse, die alles zur Ware macht, alles beherrscht, alles kauft, und die im Stande ist, wenn die Not es erfordert, unglaubliche Gewaltmittel aufzubringen zur Verteidigung ihrer Herrschaft. Zweitens durch ihren feinen Herrscherinstinkt, der jedesmal herausfühlt, wo Widerstand zu leisten, wo nachzugeben ist. und wie jede Niederlage durch eine geschickte Taktik in ihr Gegenteil umzuwandeln ist. Eine alte Bourgeoisie wie die englische versteht diese Kunst vorzüglich, und auch die deutsche fängt an es zu erlernen. Drittens durch die geistige Macht ihrer Kultur, die die ganze Gesellschaft durchdringt, die ganze Mittelklasse an die Bourgeoisie bindet und durch hundert Kanäle wie ein feines Gift sogar die Arbeiterklasse durchseucht und in ihrer Klassenentwicklung hemmt. Wie war es vor dreißig, vierzig Jahren bei den Sozialdemokraten üblich, über die Unfähigkeit der Bourgeoisie loszufahren, die Dummheit ihrer Politiker zu kritisieren und immer die Ratlosigkeit des Kapitals zu verkünden! Und der Schluß? Die Bourgeoisie hat sie alle in die Tasche gesteckt, weil sie glaubten, mit Parteimacht siegen zu können statt mit Klassenmacht. Können wir behaupten, daß die Wort- und Parteiführer von heute gröBere Qualitäten besitzen? Einige haben, wie wir selbst, höchstens etwas von der Arbeiterklasse hinzugelernt.
Deshalb ist das russische Beispiel hier nicht.anwendbar. In Rußland war eine schwache Bourgeoisie, ein schwaches Proletariat. eine riesige Mehrheit von Bauern und ein völlig unzulänglicher überlebter Staatsapparat. Daher konnte die bolschewistische Partei, durch sorgfältige Auslese und kräftige Zentralisation dazu vorbereitet, die Leitung der Revolution in die Hände nehmen und eine neue Herrschaft anbahnen. Aber auch hierbei kamen Augenblicke, wie sofort nach der Novemberrevolution, als die Parteihäupter der heranrückenden Armee gegenüber ratlos standen und die Petrograder Arbeiter aus ihrer unmittelbaren Klassenkraft heraus die Situation retteten.
Aber nicht weniger unterschätzen die Wortführer die Kraft des Proletariats. Ist die Bourgeoisie von West-Europa und Amerika anders als die russische, auch die Arbeiterklasse ist hier völlig anders. Aus den früheren Jahrhunderten kleinbürgerlichen Daseins hat sie eine große persönliche Selbständigkeit und Energie als Erbschaft mitgebracht. Dann hat sie ein Jahrhundert unter dem Druck der Bourgeoisie die Schule der Großindustrie, die Maschine durchgemacht. die die sozialen Kräfte der Zusammenarbeit zur Entwicklung brachte. Noch ist sie der Bourgeoisie nicht ganz gewachsen, die dazu nötigen geistigen und moralischen Kräfte kommen erst in der Revolution zur vollen Entwicklung. Die Vorbedingungen sind aber vorhanden, die Anlagen sind da, und darauf beruht die Zuversicht der Revolution. Das westeuropäische und amerikanische Proletariat steht vor einer Aufgabe, größer und schwerer als je eine frühere Klasse zu lösen hatte. Ist es da sonderbar, daß es zögert, seinen eigenen Kräften mißtraut, und möglichst lange einer Entscheidung aus dem Wege zu gehen versucht? Die eigene Ungeduld einer Vorhut ist kein Maßstab für die Reife der Verhältnisse; Spott und Hohn über die Passivität der Massen sind kein Zeichen der eigenen höheren Einsicht, sondern gerade des Mangels an Einsicht.
Einer Partei wird die Aufgabe nicht so ungeheuer schwer erscheinen, weil eine Parteiherrschaft, mag sie sich auch auf die Arbeiterklasse stützen, noch nicht einen so vollkommenen Bruch mit der Vergangenheit bedeutet. Es ist damit, wie vor einigen Jahrzehnten bei einem großen Wahlsieg der Sozialdemokratie der konservative Historiker Delbrück dem Sinne nach schrieb: „Dieser Aufmarsch der Massen wäre beunruhigend, wenn wir nicht wüssten, daß immer der Geist nötig ist, die Massen zu führen, der Geist, dessen Träger die Führer sind, Leute ähnlich wie wir.“ Eine neue Klassenherrschaft in der Gestalt einer Regierung neuer Führer ist ganz etwas anderes als die Selbstherrschaft der Massen selbst, denn wie die Partei die Klasse führt, so führt eine kleinere Gruppe von Parteihäuptern wieder die Partei.
Eine solche Parteiherrschaft könnte unter gewissen Bedingungen als erste Phase aus einer revolutionären Bewegung entstehen. Dann wäre sie aber nur der Anfang des wirklichen Kampfes um die Selbstbefreiung des Proletariats. Revolutionäre Kommunisten werden sich ihr gegenüber, wie immer, nach dem Prinzip verhalten, jede wirkliche Klassenbewegung der Arbeiter trotz der augenblicklichen Führung unterstützen, aber innerhalb der Bewegung stets das Selbstbestimmungsrecht der Klasse verfechten, als ihr wesentlichstes Gemeininteresse. In einem modernen Proletariat werden bald starke Kräfte gegen eine Parteiführung rebellieren, man wird sie als destruktive Elemente verschreien, aber sie sind gerade das konstruktive Element für die Zukunft. Sie sind das wertvollste für die Revolution und es ist notwendig, daß sie möglichst gestützt und gefördert werden.
Also zusammenfassend: eine Vorhut, die sich als Partei konstituiert und sich von der Klasse absondert, um Parteimacht aufzubauen, damit sie die Klasse möglichst gut führen kann, wendet ihre Kräfte nicht in der für das Proletariat wertvollen Weise an. Dies geschieht nur, wenn die Vorhut immer in die Klasse untertaucht, derart ihre ganze Kraft der Klasse zu Gute kommen läßt, damit die Klassenmacht aufgebaut wird. Die eigene Organisation der Vorhut, in der diskutiert, studiert, propagiert, beraten wird, ist dabei die Quelle, aus der der Einzelne immer wieder, namentlich in Zeiten des Rückschlags, die moralischen und geistigen Kräfte schöpft, die er in seiner revolutionären Arbeit braucht.
3. Die Partei als Meinungsgruppe
Die Partei wurde hier zuerst als Kerngruppe betrachtet, dann als Führerin der Klasse. Der Name hat aber noch eine dritte Bedeutung, und zwar als Meinungsgruppe, als Organisation derjenigen, deren Auffassung über gesellschaftliche Fragen dieselben sind.
Namentlich in der französischen Arbeiterbewegung vor dem Kriege war die Gegenüberstellung üblich der sozialdemokratischen Partei als Organisation der Meinung (Organisation d’opinion) und der Gewerkschaften als Organisation der Klasse. In dem kleinbürgerlichen Frankreich, wo in der sozialdemokratischen Partei die bürgerliche Intelligenz und bürgerliche Gruppen zahlreich vertreten waren, war es selbstverständlich, daß man jene Partei nicht als die Vertreterin, als die Partei des Proletariats betrachtete, sondern nur als eine Gruppe von Personen der gleichen sozialistischen Anschauung, die Gewerkschaft dagegen war eine reine Organisation der Arbeiterklasse. In Deutschland konnte eine solche Auffassung keinen Anklang finden, da hier damals die SPD eine wesentliche Vertreterin des Proletariats war, in ihrer Zusammensetzung so gut wie in ihrer Politik.
Das hat sich nun insoweit geändert, daß, mag die SPD auch noch die größte Masse umfassen, neben ihr noch andere Parteien und Gruppen emporgekommen sind, die alle glauben und sagen, daß sie die richtigen Vertreter des Proletariats sind. Jede von ihnen rechnet damit, daß, wenn die Arbeiter sich vor oder in der Revolution einmal erheben, sie sich massenhaft gerade bei ihr anschließen werden. Wenn jede das annimmt, so bedeutet das, daß keine von ihnen der Natur nach, nach Ursprung oder Lage, die Arbeiterpartei an sich ist. Sie sind alle Meinungsgruppen, Gruppen verschiedener Anschauungen über die Entwicklung der Gesellschaft und die Aufgaben des Proletariats. Die Union bildet eine unter ihnen. Miteinander werden sie kämpfen müssen um die Seele des Arbeiters.
Es wird oft angenommen, daß die Arbeiterklasse, wenn sie sich nur erst von den selbstsüchtigen Einflüssen der sie beherrschenden oder umwerbenden Parteien befreit hat, leicht den Weg zu einem klaren·und ein mütigen Klassenkampf finden und festhalten wird. Dies ist in einem gewissen Grade richtig; wenn sie erst ihre Einheit als Klasse in den Betrieben findet, ohne auf Organisationszugehörigkeit zu achten, und als Einheit kämpft, ist ein gewaltiger Schritt aus Verwirrung und Schwäche in der Richtung des klassenbewußten Kampfes gemacht. Parteiauffassungen, die jetzt breite Massen beherrschen, werden dann in Bedeutungslosigkeit versinken, und Anschauungen, die jetzt als Minoritätsansichten kaum beachtet werden, werden dann die geistige Einheit der revolutionären Klasse verkörpern. Aber dann kommen mit dem großen Kampf selbst die großen praktischen Schwierigkeiten. Immer werden sich neue Widerstände, neue Unsicherheiten auftun, immer wieder steht die Arbeiterklasse vor neuen Problemen, so werden die Meinungsverschiedenheiten immer wieder neuen Kampf heraufbeschwören. Mögen bei dem ersten Aufflammen einer revolutionären Bewegung alle Differenzen in einer begeisterten Einmütigkeit aufgelöst erscheinen, bald werden sich neue Schwierigkeiten zeigen.
Wir reden jetzt nicht von den bürgerlichen Mächten, die nur scheinbar niedergeworfen sind und sich wieder erheben und vorzudringen versuchen. So wie im November 1918 die ganze deutsche Bourgeoisie auf einmal rot war, um nachher wieder besser obenauf kommen zu können, so wird bei einer Arbeiterrevolution die SP natürlich revolutionär und radikal werden, um, an der Spitze bleibend, nachher die Bewegung eindämmen zu können. Das bedeutet einfach, daß das Proletariat sich erst im Laufe der Revolution völlig von den Mächten der Vergangenheit befreien kann. Hier aber reden wir von den Differenzen, die im Proletariat selbst liegen. Sie entstehen nicht nur dadurch, daß in immer neuen Situationen immer neue Anforderungen gestellt werden und der Widerstand eines mächtigen Feindes die schwierigsten Entscheidungen heischt. Sie entstehen daneben auch aus Interessengegensätzen innerhalb des Proletariats selbst. Die moderne Arbeiterklasse ist keine einheitliche Masse, sondern in verschiedene Schichten verteilt: von der riesigsten Großindustrie bis zum kleinsten Handwerk, von der geistlosen, niederdrückenden, eintönigen Maschinensklaverei bis zur nervenzerstörenden Spezialistenarbeit, hier in primitiv-rohen Naturverhältnissen lebend, wie im Ackerbau, dort in einer hochwissenschaftlichen Technik geschult. Überall sind die Arbeits- und Lebensverhältnisse und daher auch die Denkweisen verschieden; ist auch für alle das große proletarische Klasseninteresse dasselbe, so werden in Einzelheiten der augenblicklichen Maßnahmen oft Konflikte auftreten. Dann kommen sofort nach dem ersten Sieg die Fragen des Verhältnisses zu den anderen Schichten, zu den Bauern, zu der Intelligenz, sowie alle Fragen, die sich auf die Weiterführung des Kampfes beziehen.
Es ist wohl selbstverständlich, daß in jenem Kampf der Anschauungen die Personen mit gleichen Anschauungen sich zu Gruppen vereinigen, zu „Parteien“, um den Kampf für ihre Auffassung besser führen zu können. Dieser Kampf ist für die geistige Entwicklung notwendig, die die Entwicklung der Revolution begleitet und stützt. Wie diese Gruppen sich bilden werden, wie Richtungen, die nun einig sind, sich dann spalten werden, und die sich nun bekämpfen, dann vereinigen werden, läßt sich jetzt nicht voraussehen. Worauf es ankommt ist dies, daß man die künftige Entwicklung nicht so simpel sieht, daß man nicht die Illusion der allgemeinen brüderlichen Einheit hegt und der Verdorbenheit der Störenfriede zürnt, die diese Einheit spalten; daß man nicht glaubt, daß die Organisationen, die nun bestehen oder die man nun neu zum Zwecke einer einheitlichen Revolution bilden möchte, dann auch als eine große Einheitsorganisation des revolutionären Proletariats bestehen bleiben könnten. Daß man also die Gruppierungen von heute durch die Notwendigkeiten von heute und der nächsten Zukunft bestimmen läßt. Es will uns scheinen, daß die Differenzen in der Unionsbewegung vielmehr Traditionen der Vergangenheit als Ansätze der kommenden Verhältnisse sind, und daß dies sogar für noch weitere, jetzt von uns getrennte Kreise gilt; ist dem so, dann wird es nicht nötig sein, verschiedene bestehende „Parteien“ für verschieden gerichtete Parteitätigkeit der Unionsmitglieder offen zu halten. Ihre Zugehörigkeit zur Union, ihr Einverständnis mit dem Prinzip det Union, alle Kraft auf die Selbstbestimmung und die Einheit der Klasse mittels der Arbeiterräte zu richten, ist ihr wesentlichster Parteistandpunkt Es sieht aus, als ob wir aus einer Zeit wachsender Zersplitterung in eine Zeit zunehmender Konzentration und Einheit geraten, wenn auch nicht der Organisation, so doch der Anschauungen und der Ziele. Das schließt nicht aus, daß in Zukunft, bei einer Beschleunigung der Entwicklung, neue Gegensätze, die man als Richtungen und Parteien bezeichnen könnte, innerhalb und neben der Unionsbewegung entstehen können.
Also: Parteien im Sinne der Meinungsgruppen werden in der wechselvollen Entwicklung der revolutionären Klassenbewegung immer vorhanden sein müssen, als Ausdruck des notwendigen geistigen Kampfes innerhalb der Bewegung.
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[…] Pannekoek, Zur Frage der Partei […]
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