Die russischen Arbeiterinnen und Arbeiter schufen zu Beginn des 20. Jahrhunderts andere Organisationsformen als die in den meisten Ländern üblichen Parteien und Gewerkschaften. Ihre Fabrikkomitees waren Arbeiterräte, die direkt von den Belegschaften gewählt wurden. Die hier erstmals auf Deutsch erscheinenden Protokolle des Fabrikkomitees der Putilow-Werke, eines der bedeutendsten Industriebetriebe Russlands, erlauben eine ungewohnte Perspektive auf die Russische Revolution.
Dieses Buch will dafür sorgen, dass jene nicht in Vergessenheit geraten, die vor 100 Jahren die Herrschaftsverhältnisse in Russland zum Einsturz brachten und damit Weltgeschichte schrieben: die Arbeiterinnen und Arbeiter, die ihre Fabriken besetzten, die Bauernsoldaten, welche massenhaft und kollektiv die Befehle verweigerten sowie die Bäuerinnen und Bauern, die sich auf eigene Faust das Land aneigneten. Sie alle sind die eigentlichen Protagonist_innen der Revolution von 1917.
Einleitung / Rainer Thomann, Anita Friedetzky
In der Schubkarre und mit einem Sack über dem Kopf als Zeichen besonderer Schmach hatten die russischen Arbeiter die verhasstesten Chefs aus dem Betrieb gekarrt, als sie im März 1917 nach dem dreiwöchigen Generalstreik in die Betriebe zurückkehrten und die Arbeit wieder aufnahmen.[1] In dieser Handlung, bei welcher die Arbeiterinnen und Arbeiter ihre Chefs gewissermaßen „entsorgten“ und zum alten Eisen warfen, steckt eine große Symbolkraft: Ihr seid überflüssig! Wir brauchen euch nicht mehr! Wir wollen euch nicht mehr! Wir können es ohne euch! Wir sind es, die den gesellschaftlichen Reichtum produzieren – nicht ihr! Schert euch zum Teufel! Völlig unerwartet fiel das zaristische Regime im Frühling 1917 unter den ersten Schlägen der Revolution wie ein Kartenhaus zusammen. Dieser Frühling dauerte ungefähr ein Jahr. Dann forderte Lenin, dass es nun gelte:
„den stürmischen, wie Hochwasser im Frühjahr über alle Ufer brandenden Versammlungsdemokratismus der werktätigen Massen zu verbinden mit eiserner Disziplin während der Arbeit, mit der unbedingten Unterordnung unter den Willen einer Einzelperson, des sowjetischen Leiters, während der Arbeit.“[2]
Das bedeutete die Rückkehr der verhassten Chefs. Viel Zeit sich zu entfalten war dem zarten Pflänzchen der jungen Arbeiterdemokratie also nicht geblieben, bis es heftigen Stürmen ausgesetzt war, von denen es schließlich hinweggefegt wurde. Danach wurde es bereits wieder Winter.
Zeitlich liegen die beiden Ereignisse nur ein Jahr auseinander, inhaltlich jedoch sind es Welten, die sie voneinander trennen. Die Rückkehr der alten Chefs, die erneute Unterordnung der Arbeiterinnen und Arbeiter unter deren Willkür, war keine vorübergehende Maßnahme. Das geforderte Ende des „Versammlungsdemokratismus der werktätigen Massen“ war zugleich, wie sich alsbald erweisen sollte, der Beginn einer neuen Form von Sklaverei.
Repressalien seien zur Erreichung wirtschaftlicher Ziele ein notwendiges Werkzeug der „sozialistischen Diktatur“, verkündete Trotzki im April 1920. Er propagierte landauf landab die „Militarisierung der Arbeit“, die auf den Formen staatlichen Zwanges aufbaue. Andernfalls bleibe die „Ersetzung der kapitalistischen Wirtschaft durch die sozialistische für immer nur leerer Schall“. Sein ungeheuerliches Ansinnen rechtfertigte der bolschewistische Führer damit, dass dieser staatliche Zwang „im Namen der Interessen der werktätigen Massen“ verwirklicht werde.
„Der Arbeiter( … ) ist dem Staate verpflichtet, ist ihm allseitig untergeordnet, weil es sein Staat ist.“ Und an anderer Stelle: „Der Arbeiterstaat hält sich für berechtigt, jeden Arbeiter auf den Platz zu stellen, wo seine Arbeit notwendig ist.“[3]
Das war kurz und bündig die theoretische Begründung für die Anwendung staatlicher Zwangsarbeit zur wirtschaftlichen Entwicklung. „Trotzkis Theorie in Stalins Praxis“, wie Isaac Deutscher feststellte: „Trotzkis Philosophie der Arbeit lag später Stalins praktischer Arbeitspolitik in den dreißiger Jahren zugrunde (…).“[4]
Es waren ausgerechnet die beiden bekanntesten Führer der Oktoberrevolution, die glaubten, der begonnenen Emanzipation ein Ende setzen zu müssen. Ihnen hatten die russischen Arbeiterinnen und Arbeiter im Laufe des Sommers 1917 in ihrer großen Mehrzahl ihr Vertrauen geschenkt. Im Namen der „werktätigen Massen“ forderten sie nun deren erneute Unterwerfung: angefangen mit der „unbedingten Unterordnung unter den Willen einer Person“ (Lenin, April 1918) bis hin zur „Militarisierung der Arbeit“ mittels „Repressalien zur Erreichung wirtschaftlicher Ziele“ (Trotzki, April 1920). Der Widerspruch ist frappant und verlangt nach einer Erklärung. Wie war das möglich?
Auf der Suche nach einer Antwort werden zunächst die Anfänge der Arbeitermacht in Russland beschrieben und dabei in aller Kürze die Besonderheiten der Industrialisierung Russlands charakterisiert. Arbeitermacht wird als kollektive Gegenwehr derjenigen verstanden, „die nur solange leben, als sie Arbeit finden, und die nur solange Arbeit finden, als ihre Arbeit das Kapital vermehrt“ (Karl Marx/Friedrich Engels, Kommunistisches Manifest). Als eine Gegenwehr also, die eine Stärke erreicht hat, welche in der Lage ist, die Verfügungsmacht der Kapitalbesitzer über die Produktionsmittel (oder anders ausgedrückt: der formellen Besitzer der Produktionsmittel) in Frage zu stellen. Es handelt sich somit um die Macht einer sozialen Bewegung, deren Individuen sich zusammenschließen, um gemeinsam für ihre Interessen als Arbeiterinnen und Arbeiter zu kämpfen. Ein Kampf, der sich gegen alle Folgen der Lohnsklaverei richtet: gegen die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft mit einem Lohn, der meistens knapp das wirtschaftliche Überleben sichert; gegen den Kräfteverschleiß durch die gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen und die Länge des Arbeitstages; gegen die Rechtlosigkeit während der Arbeit; gegen die Abhängigkeit vom Fabrikbesitzer (wer auch immer dies sei); gegen dessen Willkür und die seiner Beauftragten.
In diesem Kampf fanden (und finden) die Arbeiterinnen und Arbeiter seit jeher und in allen Ländern einzelne Verbündete aus den höheren Gesellschaftsschichten. In Russland waren es Intellektuelle zumeist bürgerlicher oder adliger Herkunft, die in Opposition zur absolutistischen Herrschaft des Zaren standen und auf der Suche nach dem „revolutionären Subjekt“ waren, das fähig wäre, dieses Regime zu stürzen. Die einen sahen in dieser Rolle nach wie vor die russischen Bauern und Bäuerinnen in den Dörfern, welche die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung Russlands bildeten; für die anderen waren es in erster Linie oder ausschließlich die städtischen Arbeiterinnen und Arbeiter. Das Verhältnis dieser Intellektuellen zur Arbeitermacht – sei es als Berater_innen und Unterstützer_innen, als Sprecher_innen der Arbeiter_innen, als Gewerkschafts- und Parteiführer_innen oder gar als Mitglieder einer Regierung, die sich selbst als „revolutionäre Regierung“ verstand (bzw. versteht), als „Arbeiterregierung“, als „sozialistische Regierung“ oder „Linksregierung“ (oder wie auch immer sie sich nennen mag)- war (bzw. ist) eines der Kernprobleme der Arbeiterbewegung.
Einer dieser russischen Intellektuellen war der junge Leo Dawidowitsch Bronstein, der sich Trotzki nannte. Er war dabei, als im Oktober 1905 der erste Petersburger Arbeiter-Delegiertenrat gegründet wurde. Nachdem dessen Vorsitzender – ein junger Rechtsanwalt, dem ein Arbeiter namens Chrustalew seinen Ausweis überlassen hatte, damit er rechtmäßig dem Delegiertenrat angehören konnte – verhaftet wurde, übernahm Trotzki seine Funktion. Dreißig Monate später schrieb er seine Erfahrungen nieder. Das Kapitel über die Anfänge der Arbeitermacht in Russland stützt sich zu einem großen Teil auf dieses Werk[5] als eine der bedeutendsten Quellen jener Ereignisse. Bemerkenswert ist nicht zuletzt die Tatsache, dass die Fabrikkomitees – das engere Thema dieser Untersuchung – bereits im Verlaufe der Revolution von 1905 entstanden waren und nicht, wie oft vermutet, erst 1917. Die Geschehnisse des Jahres 1905 werden ausführlich geschildert, um zu einer ersten Beurteilung der Arbeitermacht zu gelangen.
Bevor sich die Darstellung dem Jahr 1917 zuwendet, wird ein Thema gestreift, das mit diesem unlösbar verknüpft ist: der Erste Weltkrieg. Dessen Beginn im August 1914 war zugleich die bedeutendste Zäsur für die internationale Arbeiterbewegung. Den Ursachen und Umständen, die zu ihrem Scheitern geführt haben, ist daher ein eigenes Kapitel gewidmet. Die Revolution in Russland war eng mit dem Weltkrieg verzahnt. Wie in den anderen am Krieg beteiligten Ländern führte der Ausbruch des Krieges zunächst zu einem sofortigen Abflauen der Streiks und Arbeiterproteste, die in Russland seit 1912 erneut in einem für die zaristische Macht bedrohlichen Ausmaß angeschwollen waren. Je länger der Krieg dauerte, desto dramatischer verschärften sich alle (durch den Krieg gewissermaßen aufgeschobenen) innenpolitischen Konflikte, insbesondere die Lebensmittelversorgung in den Städten, die im Februar 1917 zur sozialen Explosion führte.
Den Stein ins Rollen brachte ein Streik der Textilarbeiterinnen mit einer Straßendemonstration in Petersburg – alias Petrograd, wie die russische Hauptstadt seit Kriegsbeginn genannt wurde – anlässlich des internationalen Frauentags am 8. März. In Russland tickten die Uhren zu dieser Zeit anders; gültig war noch immer der Julianische Kalender, der gegenüber dem weltweit verbreiteten Gregorianischen Kalender um 13 Tage im Rückstand war. Aus diesem Grund sind jene Vorgänge, die in weniger als einer Woche zum Sturz des Zarismus führten, als Februarrevolution in die Geschichte eingegangen. Die mutige Aktion der Textilarbeiterinnen weitete sich schnell zu einem Generalstreik aus, der in den offenen Aufstand gegen die zaristische Regierung mündete und infolge der kollektiven Befehlsverweigerung der Soldaten, die in Petrograd stationiert waren, erfolgreich verlief. Es handelte sich also eindeutig um eine Arbeiterrevolution, die von den Soldaten unterstützt wurde. Dennoch wird die Februarrevolution oft als „bürgerlich-demokratische Revolution“ bezeichnet, als wäre sie – wie das im 18. und 19. Jahrhundert zumeist der Fall war – von Liberalen angeführt worden.[6] Um die Ereignisse unabhängig von solchen „Etiketten“ anschaulich und nachvollziehbar zu machen, werden sie in diesem Buch anhand von Zeitzeugen und Originalzitaten detailliert nachgezeichnet.
Nach dem unerwartet raschen Zusammenbruch der zaristischen Herrschaft entstand ein Machtvakuum. Auf welche Art es „provisorisch“ gefüllt wurde, ist das Thema der anschließenden Kapitel. Die unterschiedlichen, teilweise gegensätzlichen Interessen der verschiedenen gesellschaftlichen Akteure – die Arbeiterinnen und Arbeiter wollten nicht zu den bisherigen Bedingungen weiterarbeiten; die Soldaten wollten ein Ende des Krieges; die Bäuerinnen und Bauern wollten Land; das städtische Kleinbürgertum wollte eine Gesellschaft nach westeuropäischem Vorbild; die besitzenden Klassen wollten ihre Privilegien retten – waren die Ausgangslage zu einer höchst vielschichtigen, komplexen und widersprüchlichen Entwicklung. Im Rahmen dieses Buches kann sie nur teilweise untersucht werden, wobei der Schwerpunkt verständlicherweise bei der Arbeitermacht im oben dargelegten Sinne liegen muss. Einschränkend ist zu erwähnen, dass fast ausschließlich die Geschehnisse in Petersburg dargestellt werden, dem Epizentrum des sozialen und politischen Erdbebens. Sie stehen stellvertretend für alle anderen Gegenden des riesigen Reiches, die hier nur am Rande Erwähnung finden können.[7]
Die politische Machtbalance, die nach dem Zusammenbruch des Zarismus entstand und für die sich der Begriff „Doppelherrschaft“ eingebürgert hat, setzte sich aus zwei Polen zusammen. Auf der einen Seite: der Petersburger Rat der Arbeiter- und Soldatendeputierten, der an die Tradition von 1905 anknüpfte und auf Russisch kurz Sowjet genannt wurde, bzw. dessen Exekutivkomitee; auf der anderen die fast ausschließlich aus bürgerlichen Kräften bestehende Provisorische Regierung. Sinnigerweise hatten beide Pole anfänglich ihren Sitz im Taurischen Palais: der Sowjet im linken Teil, die Provisorische Regierung im rechten Teil des Palastes. Diese Machtbalance kippte deutlich auf die rechte Seite, als nach der Verschärfung der gesellschaftlichen und politischen Widersprüche Anfang Mai eine Koalitionsregierung aus bürgerlichen und sozialistischen Kräften gebildet wurde.
Einer der Gründer des Petersburger Sowjets und Mitglied von dessen Exekutivkomitee war der Ökonom und Journalist Nikolai Nikolajewitsch Himmer, der sich Suchanow nannte. Er gilt als einer der wichtigsten Chronisten der russischen Revolution. Seine zwischen Juli 1918 und August 1921 aufgezeichneten Erinnerungen wurden als „Tagebuch der russischen Revolution“[8] in mehrere Sprachen übersetzt, darunter ins Deutsche. Daher sind sie vermutlich die am leichtesten zugängliche russische Quelle. Auch das vorliegende Buch stützt sich, was die politischen Ereignisse zwischen Ende Februar und Ende Oktober 1917 betrifft, hauptsächlich auf diese Aufzeichnungen. Eine der wichtigsten Quellen zu den Fabrikkomitees und zu den Arbeitskämpfen in Russland ist – neben den im zweiten Teil dieses Buches erstmals auf Deutsch veröffentlichten Protokollen des Putilow Fabrikkomitees – die 1923 erschienene Studie von A.M. Pankratowa.[9]
Die übersetzten Protokolle geben einen tiefen Einblick in die konkreten Probleme der russischen Fabrikarbeiterschaft im Revolutionsjahr 1917. Nach den ersten Erfolgen im Februar/März mussten schon bald auf eigene Faust Brennstoffe beschafft werden, um der versteckten Form von Aussperrung zu begegnen, mit deren Hilfe viele Fabrikbesitzer die Arbeiterschaft in die Knie zwingen wollten. Ein anderes Thema, mit dem sich das Putilow-Fabrikkomitee zu befassen hatte, war die Organisierung und Bezahlung der Arbeitermilizen, die nach dem Verschwinden der zaristischen Polizei für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in den Arbeiterbezirken zuständig waren. Mitte September wurde nach einer Lösung für die zunehmend schwierige Versorgungslage gesucht, da die Bauern im Tausch gegen Getreide landwirtschaftliche Geräte forderten. Im Zusammenhang damit standen die eher erfolglosen Bemühungen um eine Umstellung von der Kriegsproduktion auf die Produktion ziviler Güter. In all diesen Fragen konkretisierte sich auch die etwas schwammige Forderung nach „Arbeiterkontrolle“ über die Produktion. Diese nicht gänzlich unbekannten Aspekte der russischen Revolution werden hier einmal aus einer ganz anderen Perspektive beleuchtet.
Der Generalstreik in Petrograd ging nach dem Ende der zaristischen Herrschaft zunächst weiter. Die Anerkennung des Achtstundentages und der von den Belegschaften gewählten Fabrikkomitees durch die Petersburger Fabrikanten war die Bedingung, damit die Arbeiterinnen und Arbeiter die Arbeit wieder aufnahmen. Dies bedeutete das Ende der despotischen Herrschaft und Willkür in den Fabriken. Kollektives Weisungsrecht der demokratisch gewählten Arbeitervertretungen, der Fabrikkomitees, leitete fortan das Fabrikgeschehen. So entstand als Folge der Februarrevolution auch in den Betrieben – analog zur politischen Ebene – eine Art „Doppelherrschaft“. Die aus dem formalen Eigentum abgeleitete absolute Verfügungsgewalt des Unternehmers über die Produktionsmittel wurde durch die weitgehende Mitbestimmung der Belegschaft in Frage gestellt.
Bereits wenige Wochen nach der Februarrevolution begann sich allerdings eine gewisse Entfremdung zwischen dem Exekutivkomitee des Sowjets und seiner Basis, den Arbeiter_innen und Soldaten, abzuzeichnen. Mit der Bildung der Koalitionsregierung im Mai wurde diese Kluft zunehmend größer und führte nach einem turbulenten Monat Juni zu jenen Ereignissen, die als „Juli-Aufstand“ in die Geschichte eingegangen sind. Anband von Suchanows „Tagebuch“ lassen sich die Gründe für diese Entfremdung sehr genau nachvollziehen. Sie sind entscheidend für das Verständnis jener Entwicklung, die schließlich in die Oktoberrevolution münden sollte.
Nach Beginn der Kerenski-Offensive, der Wiederaufnahme aktiver Kriegshandlungen durch die russische Armee Mitte Juni 1917, schwebte über den Soldaten der Petersburger Garnison das Damoklesschwert der Versetzung an die Front. Sie waren es deshalb, die diesmal die Initiative ergriffen. Der Versuch Anfang Juli zusammen mit den Arbeiterinnen und Arbeitern Petrograds, sowie den Kronstädter Matrosen das Exekutivkomitee des Sowjets zu zwingen, die ganze Staatsmacht zu übernehmen, misslang gründlich. Die Folge war eine massive Repressionswelle gegen die Aufständischen sowie gegen die Bolschewiki, denen die Schuld am Aufstandsversuch zugeschrieben wurde. Zum ersten Mal seit Ende Februar füllten sich die Gefängnisse wieder mit politischen Gefangenen. Die Anstrengungen der besitzenden Klassen und von Teilen der Provisorischen Regierung die repressive Welle zur Errichtung einer autoritären Herrschaft zu nutzen, gipfelten zunächst in der Wiedereinführung der Todesstrafe an der Front und Ende August in dem Versuch der Errichtung einer Militärdiktatur.
Der Kornilow-Putsch scheiterte an einer breiten Einheitsfront von unten, die von den radikalen Kräften der Arbeiter- und Soldatenmacht bis weit in die städtischen Mittelschichten reichte. Während die Bolschewiki auf diese Weise gewissermaßen politisch rehabilitiert wurden, haftete der Bourgeoisie ebenso wie Kerenskis gemäßigter, auf politischen Ausgleich der sozialen Gegensätze bedachter Regierung von nun an der Verdacht der versuchten Konterrevolution an. Mit anderen Worten, der politische Wind hatte Ende August 1917 erneut gedreht. Hinzu kamen im Frühherbst nach der Ernte Bauernaufstände, die unabhängig von den Geschehnissen in der Hauptstadt immer heftigere Formen annahmen und denen die Regierung machtlos gegenüberstand.
Der Triumph über Kornilows Putschversuch mochte den Eindruck erwecken, die Arbeitermacht befände sich wieder in der Offensive. In Wirklichkeit sah sie sich infolge zahlreicher Betriebsschließungen und Massenentlassungen zunehmend mit dem Rücken zur Wand gestellt. In welche verzwickte Lage die Fabrikkomitees dadurch gerieten, bezeugen die Protokolle aus den Putilow-Werken eindrücklich. Vor diesem Hintergrund boten die Umsturzpläne der bolschewistischen Führung im Laufe des Oktobers die Chance zu einer Flucht nach vorn. Als Katalysator wirkten die Befürchtungen, die in Petrograd stationierten Regimenter würden in Kürze an die Front verlegt, sowie Gerüchte über einen bevorstehenden Angriff deutscher Truppen auf die russische Hauptstadt, dem die Regierung tatenlos zusähe, um so die Revolution zu ersticken.
Die Entwicklung im Vorfeld des Oktoberumsturzes wird in dieser Untersuchung ebenso nachgezeichnet, wie die Vorbereitungen des bewaffneten Aufstands, insbesondere der diesbezügliche Entscheidungsfindungsprozess innerhalb der bolschewistischen Führung wird unter die Lupe genommen. Eine detaillierte Schilderung des Verlaufs der Oktoberrevolution ist umso lohnender, als auch hier ein in mehrere Sprachen übersetzter Bericht eines Augenzeugen vorliegt.[10] Einzelne Passagen aus John Reeds „10 Tage, die die Welt erschütterten“, die hier leicht gekürzt wiedergegeben werden, werfen nicht nur ein Schlaglicht auf Ereignisse von weltgeschichtlicher Bedeutung, sie liefern auch wertvolle Mosaiksteine zur eingangs gestellten Frage: „Wie war das möglich?“ Solche Mosaiksteine finden sich in großer Zahl auch in den beiden akribisch recherchierten Studien von Alexander Rabinowitch.[11] Die Kapitel, die sich mit dem Zeitraum von Juli 1917 bis Sommer 1918 befassen, stützen sich im Wesentlichen auf diese Literatur, sowie auf die umfangreiche Untersuchung von Lutz Häfner über die Partei der Linken Sozialrevolutionäre.[12]
Dass unter einer vermeintlichen „Arbeiterregierung“ auf Arbeiter_innen geschossen wurde, ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass etwas gründlich aus dem Ruder gelaufen war. Das letzte Kapitel „Die Schüsse von Kolpino“ befasst sich mit diesem Thema und widmet sich darüber hinaus ausführlich dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk. Dabei kommt einmal mehr dem Entscheidungsfindungsprozess besondere Bedeutung zu. Hält man sich vor Augen, was nach den gescheiterten Friedensbemühungen der Sowjetregierung und nach dem deutschen Diktatfrieden innenpolitisch alles abgelaufen ist, drängt sich dafür der Begriff einer „stillen Gegenrevolution“ auf. Mit der Abschaffung der Wahl der Offiziere durch die Soldaten und der massenhaften Rückkehr zaristischer Offiziere und Generäle in die neue Rote Armee wurden wesentliche Errungenschaften der Revolution ebenso rückgängig gemacht wie mit der Abschaffung der kollektiven Verwaltung bzw. Arbeiterselbstverwaltung in den Betrieben. „Arbeiterkontrolle“ – der Begriff wurde von Anfang an von allen Beteiligten (Fabrikkomitees bzw. Belegschaften, Gewerkschaften, Regierung bzw. Rat der Volkskommissare) unterschiedlich ausgelegt – wurde nun nicht mehr als Kontrolle der Werkleitungen durch die Arbeiter_innen verstanden, sondern als Kontrolle der Arbeiter_innen zur Einhaltung einer rigiden Arbeitsdisziplin.
Ein weiterer Meilenstein beim Niedergang der revolutionären Entwicklung war die Wiedereinführung der Todesstrafe im Mai 1918. Zuerst war sie mit der Februarrevolution beseitigt worden, danach von Kerenski wieder eingeführt und mit der Oktoberrevolution erneut abgeschafft worden. Nach Auffassung des Autors enthüllt ein Staat, der seine Gesetze mit der Todesstrafe durchzusetzen versucht und sich so zum Gebieter über Leben und Tod macht, der mit anderen Worten Anspruch auf das Monopol zum legalen Mord erhebt, auf diese Weise zweifelsfreis eine menschenverachtende Fratze. Und zwar gleichgültig, um was für ein politisches System es sich handelt und mit welcher Ideologie dieser Bruch mit der Zivilisation gerechtfertigt wird.
Die Verhaftung sämtlicher Abgeordneter der Linken Sozialrevolutionäre und ihrer Gäste, insgesamt über 400 Personen, anlässlich des Fünften Sowjetkongresses im Juli 1918 – ein Vorgang, der üblicherweise zu den Merkmalen eines Staatsstreichs oder Militärputsches zählt – kann als vorläufiger Abschluss dieser Gegenrevolution von 1918 identifiziert werden. Mit diesem Ereignis und einem kurzen Ausblick auf die nachfolgende Zeit endet die vorliegende Untersuchung. Die Hoffnung, erneut mit einem Generalstreik der Entwicklung zu einem autoritären Staat Einhalt zu gebieten, hatte sich Anfang Juli 1918 zerschlagen. Gleichzeitig verdeutlichen diese Ereignisse, ziemlich genau ein Jahr nach dem versuchten „Juli-Aufstand“ von 1917, dass die Arbeitermacht in Russland ihre Stärke als autonome gesellschaftliche Kraft eingebüßt hatte.
Quelle
Einleitung zu Rainer Thomann, Anita Friedetzky Aufstieg und Fall der Arbeitermacht in Russland. €24,00. 682 Seiten. ISBN 978-3-00-057043-8
Noten
[1] David Mandel. Die Bewegung der Fabrikkomitees in der Russischen Revolution. (Übersetzung aus dem Englischen: Ralf Hoffrogge) in: D. Azzellini/I. Ness (Hrsg.). „Die endlich entdeckte politische Form“ – Fabrikräte und Selbstverwaltung von der Russischen Revolution bis heute. Köln 2012, S. 133
[2] W. I. Lenin. Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, in: W. I. Lenin. Werke Band 27 (LW27), Berlin 1960, S. 262
[3] L. Trotzki. Terrorismus und Kommunismus- Anti-Kautsky. Hamburg 1920, S. 116 ff.
[4] Isaac Deutscher. Die sowjetischen Gewerkschaften (Übersetzung aus dem Englischen: Gisela Mandel). Frankfurt a.M. 1950, S. 63
[5] L. Trotzki. Die russische Revolution 1905. 2. Auflage. Berlin 1923. Man mag bemängeln, dass sich im vorliegenden Buch der ganze Zeitabschnitt bis und mit 1905 zu einem großen Teil auf ein Werk stützt, das vor mehr als 100 Jahren geschrieben wurde und dessen Verfasser höchstumstritten ist. Es geht einzig darum, einen wichtigen Zeitzeugen sprechen zu lassen, nicht um Zustimmung oder Ablehnung seiner Person oder seiner Rolle in der russischen Revolution. (Darüber hinaus verkörpert Trotzki in krasser Weise das Beispiel eines revolutionären Intellektuellen, der sich – wie die einleitenden Zitate klar machen – innerhalb weniger Jahrzehnte vom Unterstützer zum Unterdrücker der Arbeiterinnen wandelte.)
Dieses Vorgehen wurde übrigens durchgängig für alle weiteren Kapitel gewählt, die ebenfalls durch unüblich häufige und lange Zitate auffallen. Deren Sinn besteht darin, dass der geneigte Leser, die aufmerksame Leserin sich ein möglichst unvoreingenommenes Bild machen sollen, um selbst zu einer Beurteilung der Geschehnisse zu gelangen. Ein Urteil, das durchaus von jenem des Verfassers abweichen darf. Die genauen Quellenangaben bieten außerdem die Möglichkeit, die Untersuchung selbständig zu vertiefen. Es geht mit anderen Worten um eine Ermunterung, anhand der zusammengetragenen Zitate von Zeitzeugen ein – wenn auch beschränktes – eigenes Quellenstudium zu betreiben, statt sich lediglich auf Geschichtsinterpretationen zu stützen, die dem angeblich „neuesten Forschungsstand“ entsprechen.
[6] So beispielsweise von einem sowjetischen Historiker im Vorwort zu den Putilow-Werken (S. 488 ff. in diesem Buch). Dieser Einteilung liegt das Dogma zu Grunde, wonach zuerst eine „bürgerlich-demokratische Revolution“ stattfinden müsse und erst danach eine „sozialistische Revolution“. Aufgrund der sozialen Subjekte der russischen Revolution (Arbeiter_innen, Soldaten bzw. „Bauern in Uniform“) wurden diese Grenzen verwischt. Außerdem stellte bereits Marx zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fest, dass die Bourgeoisie, „was sie früher als ,liberal‘ gefeiert, jetzt als ,sozialistisch‘ verketzert“. (Karl Marx. Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. MEW Bd. 8, S. 154)
[7] Das liegt in erster Linie an der Quellenlage, die für Petersburg am zugänglichsten ist. Man muss sich dabei bewusst sein, dass die Revolution von Stadt zu Stadt, von Gegend zu Gegend anders verlief, ganz abgesehen von den Unterschieden zwischen den Städten, den Dörfern und der Kriegsfront.
[8] Nikolai Nikolajewitsch Suchanow. 1917 – Tagebuch der russischen Revolution. (Ausgewählt, übertragen und herausgegeben von Nikolaus Ehlert.) München 1967. Die deutsche Ausgabe enthält rund zwei Drittel des siebenbändigen russischen Originals von insgesamt über 2700 Seiten. Trotzkis 1930 verfasste „Geschichte der russischen Revolution“ stützt sich in wesentlichen Teilen auf Suchanows Aufzeichnungen.
[9] A. M. Pankratova. Fabrikräte in Russland. Der Kampf um die sozialistische Fabrik. (Aus dem Russischen übersetzt von Karl Schlögel.) Frankfurt a. M. 1976. Zahlreiche Informationen zu den Fabrikkomitees, die in die vorliegende Untersuchung eingeflossen sind, findet man auch in den beiden folgenden Darstellungen: Uwe Brügmann. Die russischen Gewerkschaften in Revolution und Bürgerkrieg 1917-1919. Frankfurt a. M. 1972. Group Solidarity. Räte in Russland 1917-1921. (Aus dem Englischen von Donata Elschenbroich). Berlin 1971.
[10] John Reed. Zehn Tage, die die Welt erschütterten. Berlin 1957.
[11] Alexander Rabinowitch. Die Sowjetmacht. Die Revolution der Bolschewiki 1917. (Aus dem Amerikanischen von Andrea Rietmann.) Essen 2012. Alexander Rabinowitch. Die Sowjetmacht. Das erste Jahr. (Aus dem Amerikanischen von Andrea Rietmann und Peter Sondershausen.) Essen 2010.
[12] Lutz Häfner. Die Partei der Linken Sozialrevolutionäre in der russischen Revolution von 1917/18. Köln 1994.