Die KAPD contra Lenin: der Parlamentarismus

roteruhrarmee
Rote Ruhr Armee 1921

In 1920, inmitten der Deutschen Revolution, bekämpfte die KAPD Lenins Forderung an den kommunistischen Parteien sich an Wahlen zu beteiligen. In seine Schrift Offener Brief an den Genossen Lenin, übernahm Gorter zwei Fragmente von Anton Pannekoeks Die Entwicklung der Weltrevolution und die Taktik des Kommunismus, die wir hier reproduzieren.

„Die deutsche Erfahrung stellt uns gerade vor das große Problem der Revolution in Westeuropa. In diesen Ländern hat die alte bürgerliche Produktionsweise und die damit zusammenhängende hochentwickelte Kultur vieler Jahrhunderte dem Denken und Fühlen der Volksmassen völlig ihren Stempel aufgeprägt. Dadurch ist der geistige und innere Charakter der Volksmassen hier ganz anders als in den östlichen Ländern, die diese Herrschaft bürgerlicher Kultur nicht kannten. Und darin liegt vor allem der Unterschied im Verlauf der Revolution im Osten und im Westen. In England, Frankreich, Holland, Skandinavien, Italien, Deutschland lebte vom Mittelalter her ein kräftiges Bürgertum mit kleinbürgerlicher und primitiv kapitalistischer Produktion; indem der Feudalismus zerschlagen wurde, wuchs auf dem Lande ein ebenso kräftiges, unabhängiges Bauerntum empor, das auch Meister in der eigenen kleinen Wirtschaft war. Auf diesem Boden entfaltete sich das bürgerliche Geistesleben zu einer festen nationalen Kultur, vor allem in den Küstenstaaten England und Frankreich, die voran in der kapitalistischen Entwicklung schritten. Der Kapitalismus im 19. Jahrhundert hat mit der Unterwerfung der ganzen Wirtschaft diese nationale Kultur gesteigert, verfeinert und mit seinen geistigen Propagandamitteln, Presse, Schule und Kirche, fest in die Köpfe der Massen eingehämmert, sowohl jener Massen, die er proletarisierte und in die Städte zog, als auch jener, die er auf dem Lande ließ. Das gilt nicht nur für die Stammländer des Kapitalismus, sondern ähnlich, sei es auch in etwas verschiedenen Formen für Amerika und Australien, wo die Europäer neue Staaten gründeten, und für die bis dahin stagnierenden Länder Zentraleuropas: Deutschland, Österreich, Italien, wo die neue kapitalistische Entwicklung an eine alte, steckengebliebene, kleinbürgerliche Wirtschaft und kleinbürgerliche Kultur anknüpfen konnte. Ganz anderes Material und andere Tradition fand der Kapitalismus vor, als er in die östlichen Länder Europas eindrang. Hier in Russland, Polen, Ungarn, auch in Ost-Elbien, war keine kräftige bürgerliche Klasse, die von altersher das Geistesleben beherrschte; die primitiven Agrarverhältnisse mit Großgrundbesitz, patriarchalischem Feudalismus und Dorfkommunismus bestimmten das Geistesleben“ (18).

„Der Parlamentarismus ist die typische Form des Kampfes mittels Führer, wobei die Massen selbst eine untergeordnete Rolle spielen. Seine Praxis besteht darin, dass Abgeordnete, einzelne Personen, den wesentlichen Kampf führen; er muss daher bei den Massen die Illusion wecken, dass andere den Kampf für sie führen können. Früher war es der Glaube, die, Führer könnten für die Arbeiter wichtige Reformen im Parlament erzielen; oder gar trat die Illusion auf, die Parlamentarier könnten durch Gesetzbeschlüsse die Umwälzung zum Sozialismus durchführen. Heute, da der Parlamentarismus bescheidener auftritt, hört man als Argument, im Parlament könnten die Abgeordneten Großes für die Propaganda des Kommunismus leisten. Immer fällt dabei das Hauptgewicht auf die Führer, und es ist selbstverständlich dabei, dass Fachleute die Politik bestimmen – sei es auch in der demokratischen Verkleidung der Kongressdiskussionen und Resolutionen –; die Geschichte der Sozialdemokratie ist eine Kette vergeblicher Bemühungen, die Mitglieder selbst ihre Politik bestimmen zu lassen. Wo das Proletariat parlamentarisch kämpft, ist das alles unvermeidlich, solange die Massen noch keine Organe der Selbstaktion geschaffen haben, also, wo die Revolution noch kommen muss. Sobald die Massen selbst auftreten, handeln und dadurch bestimmen können, werden die Nachteile des Parlamentarismus überwiegend.
Das Problem der Taktik ist, wie in der proletarischen Masse die traditionelle bürgerliche Denkweise auszurotten ist, die ihre Kraft lähmt; alles, was die überlieferte Anschauung neu stärkt, ist vom Übel. Der zäheste, festeste Teil dieser Denkweise ist ihre Unselbständigkeit Führern gegenüber, denen sie die Entscheidung allgemeiner Fragen, die Leitung ihrer Klassenangelegenheiten überlässt. Der Parlamentarismus hat die unvermeidliche Tendenz, die eigene, zur Revolution notwendige Aktivität der Massen zu lähmen. Mögen da schöne Reden zur Weckung der revolutionären Tat gehalten werden, so entspringt das revolutionäre Handeln nicht solchen Worten, sondern nur der harten, schweren Notwendigkeit, wenn keine andere Wahl mehr bleibt.
Die Revolution erfordert auch noch etwas mehr als die massale Kampftat, die ein Regierungssystem stürzt und von der wir wissen, dass sie nicht von Führern bestellt, sondern nur aus dem tiefen Drang der Massen emporspringen kann. Die Revolution erfordert, dass die großen Fragen der gesellschaftlichen Rekonstruktion zur Hand genommen, dass schwierige Entscheidungen getroffen werden, dass das ganze Proletariat in schaffende Bewegung gebracht wird – und das ist nur möglich, wenn zuerst die Vorhut dann eine immer größere Masse sie selbst zur Hand nimmt, sich selbst dafür verantwortlich weiß, sucht, propagiert, ringt, versucht, nachdenkt, wägt, wagt und durchführt. Aber das ist alles schwer und mühsam; solange daher die Arbeiterklasse– glaubt, einen leichteren Weg zu gehen, indem andere für sie handeln – von einer hohen Tribüne Agitation führen, Entscheidungen treffen, Signale für die Aktionen geben, Gesetze machen –, wird sie zögern und durch die alten Denkgewohnheiten und die alten Schwächen passiv bleiben“ (20).

Zitiert in Herman Gorter Offener Brief an den Genossen Lenin. Eine Antwort auf Lenins Brochüre “Der Radikalismus eine Kinderkrankheit des Kommunismus”, Berlin : Verlag der Kommunistischen Arbeiter-Partei Deutschlands, [1920]. –  88 p.

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